Brief an das Preußische Staatsministerium, Berlin, 13. Februar 1889
Dem Votum des Herrn Ministers des Innern vom 29. Januar d. J. trete ich darin bei, daß der Versuch, an die Stelle des jetzt gültigen Gesetzes über die Socialdemokratie etwas Anderes zu setzen, wenn er überhaupt gemacht werden soll, noch in der laufenden Session des Reichstages zur Ausführung gelangen sollte.
Ich bin auch in Uebereinstimmung mit dem Herrn Minister des Innern der Ansicht, daß das Gelingen dieses Versuches wenig Wahrscheinlichkeit für sich hat. Ob er dennoch gemacht werden soll, stelle ich dem Beschlusse des Staatsministeriums anheim.
Meinerseits glaube ich, mich wiederholt dafür aussprechen zu sollen, das Socialistengesetz als „Ausnahmegesetz“ fortbestehen zu lassen. Die Gründe dafür habe ich in dem von mir als Minister für Handel pp. abgegebenen, allen Herren Staatsministern mitgetheilten Votum vom 6. August v. J. dargelegt und dort insbesondere ausgeführt, daß die Bestrebungen der Socialdemokratie an sich strafbar sind und deshalb durch Sondergesetze bekämpft werden müssen, welche nur diese Bestrebungen treffen.
Das Wesen der Socialdemokratie besteht darin, daß sie die staatliche Ordnung negirt. Daraus ergiebt sich für den Staat das Recht und die Pflicht, seinerseits die Socialdemokratie nicht nur in ihren Wirkungen, sondern in ihrer Berechtigung zur Existenz im Staate zu bekämpfen. Dieselbe befindet sich mit dem Staate im Kriegszustande und der Staat ist befugt und seinen gegen die Socialdemokratie schutzbedürftigen Angehörigen gegenüber verpflichtet, sie nach Kriegsrecht zu behandeln. So wenig der in das Land einfallende Feind auf den Schutz des einheimischen Rechtes Anspruch hat, ebensowenig kann vom Staate gefordert werden, daß er die auf seinen Umsturz gerichteten Bestrebungen der Socialdemokraten unter den Schutz seiner Gesetze nehme.
Den Wunsch des Herrn Ministers des Innern, das Socialistengesetz auf die Dauer bewilligt zu erhalten, theile ich, da die immer wiederkehrende Frage der Verlängerung desselben der Socialdemokratie ein wirksames Agitationsmittel in die Hand giebt. Ich bin deshalb dafür, das Gesetz ohne Fristbestimmung beim Reichstage einzubringen und für den Fall des Widerspruchs im Wege des Kompromisses auf eine möglichst lange Geltungsdauer hinzuwirken.
Zu den einzelnen Abänderungsvorschlägen des Herrn Ministers des Innern gestatte ich mir Folgendes zu bemerken:
Daß der Reichstag in der Beseitigung der im § 26 des Socialistengesetzes eingesetzten Reichskommission und in dem Ersatze derselben durch die Verwaltungsgerichte – also einer administrativen Behörde durch eine andere – eine Verstärkung des Rechtsschutzes, mithin ein Zugeständniß erblicken würde, bezweifle ich, zumal – wie der Herr Minister des Innern bemerkt – auch die Einsetzung der Reichskommission seiner Zeit unter dem Gesichtspunkte des Schutzes gegen willkürliche und gesetzwidrige Entscheidungen der Landespolizeibehörden in den Einzelstaaten erfolgt ist. Eine solche Konzession würde man nach der herrschenden Auffassung nur in der Substituirung der ordentlichen Gerichte finden.
Die vorgeschlagene Aenderung des § 11 Abs. 2 des Socialistengesetzes dahin, daß bei periodischen Druckschriften das Verbot des ferneren Erscheinens derselben nicht schon in Folge des Verbotes einer einzelnen Nummer, sondern erst dann eintreten darf, wenn wiederholt das Verbot einer einzelnen Nummer stattgefunden hat, würde grundsätzlich in der Befugniß der Staatsbehörden, auch das fernere Erscheinen periodischer Druckschriften zu verbieten, nichts ändern und nur hinsichtlich der praktischen Handhabung jener Befugniß die Position des Staates unnöthig schwächen. Ueberhaupt empfiehlt es sich, auch minder werthvolle staatliche Rechte nicht a limine preiszugeben, diesbezügliche Zugeständnisse vielmehr erst bei etwaigen Kompromiß-Verhandlungen in die Wagschale zu werfen.
Wenn der Herr Minister des Innern den Wegfall der §§ 22 bis 25 a.a.O. – wonach die geschäftsmäßigen Agitatoren pp. bezüglich des Aufenthaltes, des Gewerbebetriebes, sowie der Verbreitung von Druckschriften und des Handels mit denselben gewissen Beschränkungen unterworfen werden können – geltend macht, daß die Vorschriften jener Paragraphen niemals, bezw. nur in vereinzelten Fällen zur Anwendung gelangt seien, so möchte ich diese Thatsache eben dem Umstande zuschreiben, daß die gesetzliche Bedrohung bestand und ich besorge, daß Anlaß und Bedürfniß, dieselben wieder einzuführen, sich in stärkerem Maße fühlbar machen würden, sobald der gesetzliche Druck, unter welchem die bezeichneten Personen bisher gestanden haben, fortgefallen ist. Ob die Bestimmungen unter No. 1 und 2 des § 28 des Socialistengesetzes (polizeiliche Genehmigung für das Abhalten von Versammlungen, Verbot der Verbreitung von Druckschriften auf öffentlichen Wegen pp.) ohne Nachtheil aufgehoben werden können, ist mir nicht unzweifelhaft, dagegen pflichte ich der Auffassung des Herrn Ministers des Innern bei, daß die Verbote und Einschränkungen, welche § 28 Nr. 4 a.a.O. in Bezug auf den Besitz und das Tragen von Waffen vorsteht, entbehrlich sind, weil sich diese Materie jederzeit auch im Wege der Polizeiverordnung regeln läßt.
Anlangend den von dem Herrn Minister des Innern vorgeschlagenen Zusatz zu § 28 a.a.O., so erscheint mir eine verfrühte Aufhebung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes für die davon betroffenen, wenn auch anscheinend wieder beruhigten, Bezirke und Ortschaften nicht nützlich. Ueberdies dürfte jener Zusatz wegen der darin liegenden Verschärfung im Reichstage auf Widerspruch stoßen und schwer durchzusetzen sein.
Schließlich möchte ich mich dafür aussprechen, daß die Begriffsbestimmung der Bestrebungen, gegen welche das Gesetz vom 21. Oktober 1878 sich richtet (§§ 1, 9, 11), weiter gefaßt werde. Das genannte Gesetz sollte auf jeden Versuch eines Umsturzes der bestehenden Staats- oder Gesellschaft-Ordnung anwendbar sein. Daß dies gegenwärtig nicht der Fall ist, erhellt beispielsweise aus der Thatsache, daß der „Und nochmals discite moniti“ (Und nochmals ‚Lernt Ermahnte!‘) überschriebene Leitartikel der Volkszeitung vom 5. Februar d. J. (Nr. 30. Erstes Blatt) nicht auf Grund des Socialistengesetzes verfolgt worden ist. Der Artikel richtet sich gegen das monarchische Princip als solches und sucht dasselbe herabzuziehen, hat also den Umsturz der bestehenden Staatsordnung zum Zweck. Wenn dagegen trotzdem nicht eingeschritten worden ist, so wird die Erklärung dafür darin zu suchen sein, daß die zur Ausführung des Gesetzes berufenen Behörden die Anwendung des § 11 a.a.O. von dem Vorhandensein eines äußerlichen Zusammenhanges der betreffenden Druckschrift mit den Bestrebungen („socialdemokratischen, socialistischen oder kommunistischen“) der socialdemokratischen Partei abhängig machen. Die Erfahrungen der jüngsten Zeit lassen den Versuch geboten erscheinen, in diesem Punkte durch eine erweiterte Begriffsbestimmung der Bestrebungen, gegen welche das Gesetz dem Staate als Vertheidigungswaffe dienen soll, Abhülfe zu schaffen.
Abschrift dieses Votums habe ich jedem der Herren Staatsminister zugehen lassen.