Der Alte vom Sachsenwald

    1890 – 1898

     

    Am 9. März 1888 starb Wilhelm I., und bereits am 15. Juni folgte ihm der todkranke Friedrich III. (der vormalige Kronprinz Friedrich Wilhelm) ins Grab. Dessen Sohn bestieg tags darauf als Wilhelm II. den Thron. Dieser Herrscherwechsel erschütterte die bis dahin unangefochtene Machtstellung des „Eisernen Kanzlers“. Der neue Kaiser bewunderte zwar Bismarcks politische Leistungen, sah in ihm jedoch zunehmend ein Hindernis bei der Entfaltung seiner eigenen politischen Initiativen. Aufgrund gegensätzlicher Ansichten über die Arbeiterfrage stellte Bismarck bereits im Januar 1890 seinen Posten als preußischer Handelsminister zur Verfügung. Seine Versuche, Verbündete in seinem Machtkampf mit dem Monarchen zu finden, scheiterten. Meinungsverschiedenheiten über die Russlandpolitik sowie das Sozialistengesetz, aber auch der Verlust der Mehrheit der die Regierung stützenden „Kartellparteien“ (Konservative und Nationalliberale) bei den Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 lieferten dem Kaiser den willkommenen Anlass, den Reichskanzler am 17. März ultimativ zum Rücktritt aufzufordern. Einen Tag später reichte dieser sein Entlassungsgesuch ein. Das Dokument war von ihm so geschickt formuliert, dass die Ursachen für den Bruch allein Wilhelm II. zur Last gelegt werden konnten. Der Kaiser verbot daraufhin die Veröffentlichung des Textes. Die regierungsamtliche Version lautete, dass Bismarcks Rücktritt freiwillig aus gesundheitlichen Gründen erfolgt sei. Am 20. März bewilligte der Monarch das Entlassungsgesuch, wobei er in seiner Antwort Bismarck zum Herzog von Lauenburg ernannte – einen Titel, den der Geehrte nie getragen haben soll. Noch am gleichen Tag berief Wilhelm II. den General Leo von Caprivi zum neuen Reichskanzler.

     Annahme Entlassung Bismarck B 130 Bl 87Urkunde zur Entlassung des Fürsten Bismarck aus seinen Ämtern, 20. März 1890 (1. Seite)

    Rückzug ins Private? Bismarck im „Unruhestand“

    Am 29. März 1890 verließ der nunmehrige Altreichskanzler die Hauptstadt und verbrachte die letzten Lebensjahre – nur unterbrochen von einigen Reisen – auf seinem Wohnsitz in Friedrichsruh bei Hamburg. Finanziell war der Großgrundbesitzer gut abgesichert: Sein Jahreseinkommen betrug im März 1890 rund 330.000 Mark. Die Summe setzte sich aus den Erträgen seiner Güter sowie dem Ruhegehalt und Zinseinkünften zusammen. Darüber hinaus verfügte er über ein Wertpapiervermögen in Höhe von etwas über 1,2 Millionen Mark.

    Bei seinem Abschied aus Berlin wurde Bismarck von seinem älteren Sohn Herbert begleitet. Dieser war 1873 in den diplomatischen Dienst eingetreten und 1886 zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes ernannt worden. Entgegen den Wünschen des Kaisers trat er nun aus Solidarität mit seinem Vater von seinem Posten zurück. Während das Ausland über Bismarcks Sturz beunruhigt war, hielt sich in Deutschland die Trauer darüber in Grenzen. Sowohl Bismarcks maßvolle Außenpolitik als auch seine repressive Innenpolitik galt vielen Deutschen als unzeitgemäß und nicht zukunftsweisend – seine Zeit als Lenker der preußisch-deutschen Politik war abgelaufen.

    Auf seinen Gütern frönte er der Jagd, nutzte die Zeit für Ausritte und -fahrten sowie Spaziergänge in der Umgebung. Doch das politische Geschäft ließ ihn nicht los. In Friedrichsruh empfing er deutsche wie ausländische Staatsoberhäupter und Politiker. So besuchten ihn 1895 das Großherzogspaar von Mecklenburg-Schwerin, 1896 der chinesische Staatsmann und General Li Hongzhang, im Jahr darauf König Chulalongkorn (Rama V.) von Siam (Thailand) sowie Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Neben hochrangigen Persönlichkeiten gaben sich auch Historiker, Publizisten und Journalisten in Bismarcks Herrenhaus die Klinke in die Hand. Über Letztere sowie die „Hamburger Nachrichten“, deren Eigentümer dem Altreichskanzler angeboten hatte, das Blatt für dessen Ansichten als Sprachrohr zur Verfügung zu stellen, kommentierte er in unzähligen Artikeln das Tagesgeschehen und die Politik seines Nachfolgers, die er unter anderem als „Capriviolen“ verspottete. Ende April 1891 bewarb er sich zum Entsetzen des Hofes und der Reichsleitung in einem hannoverschen Wahlkreis als Kandidat der Nationalliberalen für einen Sitz im Reichstag. In der Stichwahl siegte er über seinen sozialdemokratischen Gegenkandidaten. Er nahm das Mandat zwar an, übte es aber nicht aus – die politisch Verantwortlichen in Berlin konnten erleichtert aufatmen.

     Herbert und Otto von BismarckOtto von Bismarck und sein Sohn Herbert (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Vom Kult zum Mythos

    Als seine Nachfolger im Amt des Reichskanzlers sowie Kaiser Wilhelm II. die hohen Erwartungen der Öffentlichkeit an den „Neuen Kurs“ nicht zu erfüllen vermochten, begann in der Bevölkerung eine Rückbesinnung auf den „Reichsgründer“. Nationalliberale und Konservative, aber auch die „nationalen Verbände“, studentische Verbindungen und Teile des protestantisch-städtischen Bürgertums trugen mit ihrer Bismarck-Verehrung dazu bei, dass dessen Person und politisches Wirken zunehmend positiv beurteilt wurden. „Vaterländisch“ gesinnte Deutsche überhöhten Bismarck auf der Suche nach einer nationalen Identifikationsfigur zu einem Symbol für das Reich und die deutsche Nation. Mahnende Stimmen, die an die dunklen Seiten der Bismarck-Ära erinnerten, blieben in der Minderheit.

    Bismarcks Reise nach Wien anlässlich der Heirat seines Sohnes Herbert mit der ungarischen Gräfin Marguerite von Hoyos im Sommer 1892 wurde zu einem Triumphzug. Wo immer er auf der Hin- und Rückfahrt Station machte, erwarteten ihn jubelnde Menschenmassen; dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf die öffentlich bekannt gewordenen Bemühungen Wilhelms II. und des Reichskanzlers Leo von Caprivi, in Wien darauf zu drängen, Bismarck keinen offiziellen Empfang zu gewähren. Dessen Popularität stieg wieder an, während das Ansehen des Kaisers angesichts des Zerwürfnisses ernsthaft Schaden zu nehmen drohte. Daher entschloss sich der Hof, den Bismarcks die Hand zur Versöhnung zu reichen, zumal der Altreichskanzler im August 1893 lebensbedrohlich erkrankte (nur wenige Monate zuvor, im Mai, war sein Bruder Bernhard gestorben). Anfang Januar 1894 kam es zu einem Besuch des wieder genesenen Bismarcks bei Wilhelm II. in Berlin, den der Kaiser im Februar in Friedrichsruh erwiderte. Nach außen hin war das beiderseitige gute Verhältnis wiederhergestellt, doch in Wirklichkeit war der Bruch zwischen ihnen nicht mehr zu heilen.

     Amerika bei Bismarck„Amerika bei Bismarck“ ist dieses Foto betitelt, das 1892 in dem Album „Bismarckbilder aus dem Sachsenwalde“ im Verlag der Literarischen Gesellschaft Leipzig erschienen ist.

    An seinen Geburtstagen und nationalen Feiertagen huldigten in Friedrichsruh Tausende Verehrer dem „Alten im Sachsenwald“. Über 450 Städte ernannten ihn zu ihrem Ehrenbürger. Zahlreiche Denkmäler wurden zu seinen Ehren errichtet, weltweit Straßen, Plätze und Städte nach ihm benannt. Sogar Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände trugen den Namen des „Reichsgründers“. Hinzu trat die literarische und künstlerische Verehrung, die sich in Lebensbeschreibungen, Gedichten, Predigten, musikalischen Kompositionen, Gemälden und Zeichnungen, Kleinplastiken, Medaillen, Postkarten und Fotografien ausdrückte.

    An seinem 80. Geburtstag am 1. April 1895 erreichten neben amtlichen Ehrungen mehrere Hunderttausend Glückwunschschreiben sowie rund Zehntausend Telegramme Friedrichsruh, das von zahlreichen Delegationen besucht wurde. Der Reichstag hingegen lehnte es mehrheitlich ab, den Jubilar mit einer Glückwunschadresse zu ehren.

    Der Altreichskanzler befeuerte den sich zu einem regelrechten Mythos verdichtenden Kult mit Presseartikeln, Publikationen und den nach der Entlassung in Angriff genommenen Memoiren („Gedanken und Erinnerungen“). Sein langjähriger Mitarbeiter Lothar Bucher übernahm es, die mündlich vorgetragenen Erinnerungen zu strukturieren, wobei er zu seinem Verdruss häufig auf Widersprüche zwischen Bismarcks Erzählungen und den historischen Fakten stieß. Die ersten beiden Bände des Werks erschienen 1898 im Verlag Cotta bald nach dem Tod des Altreichskanzlers und wurden Verkaufsschlager. Der dritte Band wurde mit Rücksicht auf die Person des Kaisers erst 1921 – drei Jahre nach dem Ende der Monarchie – veröffentlicht.

    So trug der Altreichskanzler aktiv dazu bei, dass der Mensch Bismarck und sein historisches Erbe weitgehend hinter einer verklärenden Darstellung zu verschwinden begannen. Die Bismarckverehrung wurde zu einem festen Bestandteil der Erinnerungskultur im Kaiserreich. Sie diente der Legitimierung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung und war ein Ausdruck der Identitätssuche der Deutschen. Allerdings wurde Bismarck aufgrund seines Kampfes gegen politische und ethnische Minderheiten nie für die gesamte Bevölkerung zu einer nationalen Identifikationsfigur. Erst nach dem Tod des „Reichsgründers“ begannen katholische Bevölkerungsteile und Kritiker aus dem protestantisch-bürgerlichen Lager, Bismarck und seine Politik positiver zu bewerten.

     Lothar Bucher AllersLothar Bucher in Friedrichsruh, Zeichnung von Christian Wilhelm Allers, 1892

    Der Tod seiner Ehefrau Johanna am 24. November 1894 erschütterte den „Alten im Sachsenwald“ schwer, alles erschien im jetzt „öde und leer.“ Von nun an – von seiner Familie und seinem Leibarzt Schweninger umsorgt – verließ er Friedrichsruh nicht mehr. Er verlor zunehmend seinen Lebensmut, wozu auch die sich verschlechternde körperliche Verfassung beitrug. Dennoch beging er im März 1897 sein 60. Militärdienstjubiläum. Mitte Dezember empfing er – im Rollstuhl sitzend – ein letztes Mal Kaiser Wilhelm II. zu einem kurzen Besuch in Friedrichsruh. Die letzten Lebensmonate wurden wegen der heftigen Schmerzen zu einer wahren Qual. Bismarck verstarb am 30. Juli 1898 kurz vor 23 Uhr im Schlafzimmer seines Herrenhauses in Friedrichsruh. In seinen letzten Worten soll er die Hoffnung ausgesprochen haben, seine Johanna im Himmel wiederzusehen.

    Die Familie von Bismarck verweigerte sich dem Wunsch Wilhelms II., den Verstorbenen in der Hohenzollerngruft des Berliner Doms zu bestatten. Vielmehr wurde gegenüber dem Herrenhaus ein Mausoleum errichtet, in dem Otto und Johanna von Bismarck am 16. März 1899 – dem elften Jahrestag der Beisetzung Kaiser Wilhelms I. – gemeinsam ihre letzte Ruhestätte fanden.

     Postkarte Mausoleum FriedrichsruhDie Postkarte zeigt das Mausoleum der Familie von Bismarck in Friedrichsruh (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)


    Video: „Friedrichsruh und der Alte aus dem Sachsenwald“

    Friedrichsruh ist bis heute untrennbar mit Otto von Bismarck verbunden. Er hatte 1871 Teile des Sachsenwaldes von Kaiser Wilhelm I. als Dank für seine Verdienste um die Reichsgründung erhalten und sich in dem beschaulichen Ort an der Bahnlinie Hamburg – Berlin niedergelassen. Mit der Ruhe war es dort dann allerdings bald vorbei, wie dieses Video zeigt.

    Friedrichsruh