Geteilte Erinnerung

    1945-1990

    Nachdem die Verbrechen des Nationalsozialismus Europa in den Abgrund gerissen hatten, kapitulierten am 7. Mai 1945 die deutschen Streitkräfte zum zweiten Mal innerhalb von 26 Jahren. Deutschland wurde anders als am Ende des Ersten Weltkriegs besetzt und die Regierungsgewalt ging an die alliierten Sieger über. Der 1871 gegründete kleindeutsche Nationalstaat war damit buchstäblich in weite historische Ferne gerückt und zu einem „vergangene[n] Reich“ (Klaus Hildebrand) geworden. Allgemeine Wohnungsnot, Vertreibung aus den Ostgebieten, Hunger und die Sorge um das tägliche Überleben ließen allerdings bei den wenigsten Deutschen Gedanken an diese staatsrechtlichen Veränderungen aufkommen. Auch das Verschwinden Preußens durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 wurde in den vier Besatzungszonen mehr oder weniger lakonisch zur Kenntnis genommen – die „Zusammenbruchsgesellschaft“ hatte andere Probleme.

     Karte Besatzungszonen 1945 KopieGermany: Map of the Occupation Areas – Karte der Besatzungs-Zonen, Druck, 1945 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Deutsche Teilung und nationale Identität

    Die Frage nach nationaler Identität war aber nur zeitweise verschwunden. Mit der Gründung zweier deutscher Staaten im Mai bzw. Oktober 1949 gelangte sie wieder auf die Tagesordnung. Die Systemkonkurrenz im Kalten Krieg hatte eine immer strikter kontrollierte Grenze zwischen dem zur sozialistischen „Republik“ Moskauer Prägung gewordenen Ostdeutschland und der von Bonn aus regierten Bundesrepublik gezogen.

    Die deutsche Einheit war damit aufgehoben. Die Meinungsfreiheit war im Herrschaftsbereich der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) rigoros eingeschränkt, die die DDR als neu entstandenen Staat definierte. Fragen von Gegenwart und Zukunft sowie historische Selbstvergewisserungen konnte es daher nur im alten preußischen Westen und den ehemals süddeutschen Staaten geben, wo das Deutsche Reich zur Bundesrepublik – neu geordnet in zehn Bundesländern (einschließlich des Saarlandes ab 1957) – und damit zu einer parlamentarischen Demokratie wurde.

     

    Debatte über die Frage eines deutschen Sonderwegs

    Die hier geführten Debatten über Bismarck und das Kaiserreich waren in den ersten Jahrzehnten vor allem von dem Problem der staatlichen und mentalitätsgeschichtlichen Kontinuität geprägt. Die Kritik im Sinne des linksliberalen Bismarck-Biografen Erich Eyck sah vor allem die Innenpolitik als nachteilig für das politische Wertesystem der Deutschen an. Durch die verzögerte Parlamentarisierung, die Sondergesetze gegen „Reichsfeinde“ und den hohen Stellenwert des Militärs habe das Bismarck-Reich einen autoritativen Grundzug installiert, der sich bis zum Nationalsozialismus in einen „Sonderweg“ der deutschen Geschichte ausgewirkt habe. Gegen diese Normabweichung des Deutschen Reichs auf dem Weg in die Moderne argumentierten konservativer gestimmte Geister mit den unterschiedlichen Fortschrittsleistungen des Kaiserreichs und dem Vergleich einzelner Aspekte mit den europäischen Nachbarn an.

     Bismarck Leichtkraftrad 1950Auf einer „Bismarck“ ins Wirtschaftswunder: Das Leichtkraftrad, Baujahr 1950, kostete 1150 D-Mark ab Werk. (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Adenauer in Friedrichsruh

    Diese Streitpunkte wurden in erster Linie in der Geschichtswissenschaft und den Feuilletons verhandelt, und Golo Mann machte darin in der Rückschau zutreffend „mehr oder weniger hitzige Parteimeinungen“ aus, die sich „erst in unseren sechziger Jahre zu beruhigen“ begonnen hätten. Wie stark sich zuvor die individuelle Zeitgenossenschaft noch auswirkte, ist beispielhaft an Konrad Adenauer zu sehen. Als 1876 in Köln geborener Sohn eines katholischen Elternhauses trug er seit Kindertagen die Erinnerung an den Kulturkampf in sich. Es kostete den ersten Bundeskanzler einige Überwindung, dem Parteikollegen und Bismarck-Enkel Otto 1953 im Bundestagswahlkampf einen Unterstützungsbesuch in Friedrichsruh abzustatten und sich dabei selbst in eine auch nur vage Beziehung zu dessen übermächtigem Vorfahren zu setzen.

     adenauer im bismarck museumBundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) besuchte 1953 während einer Wahlkampftour auch das Bismarck-Museum in Friedrichsruh (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Kritik und Wertschätzung in der Bonner Republik

    In weiten Bevölkerungskreisen gab es diese individuellen Animositäten der älteren Generation oder die akademisch begründete Kritik allerdings nicht. Hier fügten sich stärker als noch in der Zwischenkriegszeit kritische Einschätzungen der rigiden Innenpolitik an die Anerkennung der außenpolitischen Erfolge in der Reichseinigung und Friedenssicherung, ohne dass dabei dialektische Verrenkungen entstanden. Die 1965 im Bundestag und im Auswärtigen Amt gehaltenen Reden zum 150. Geburtstag Bismarcks spiegeln diese verbreitete Tendenz zur Harmonisierung von Kritik und Wertschätzung, wenn auch linksliberale Publizisten weiterhin einseitig die negativen Seiten betonten. Auf diese stellte 1971 auch Bundespräsident Gustav Heinemann ab, als er seine Rede zum den 100. Jahrestag der Reichsgründung zu einer Generalabrechnung mit dessen Gründer nutzte.

    Moderatere, wenn auch keineswegs unkritische Töne schlug die seit ihrem Erscheinen zum Klassiker gewordene Bismarck-Biografie Lothar Galls an, die den „weißen Revolutionär“ (1980) in jeder Hinsicht auf menschliches Maß brachte. Die darin ausgearbeiteten Ambivalenzen stehen für eine zunehmend abgeklärtere Sicht auf Bismarck und das Kaiserreich, die sich auch im Umgang der Öffentlichkeit mit den Denkmälern zeigte. Mal wurden sie vernachlässigt, mal liebevoll gepflegt, mal dramaturgisch dadurch neu inszeniert, dass man den Standort änderte oder umbenannte und den Reichsgründer damit geschichtspolitisch einhegte. In Wuppertal steht Bismarck etwa seit den 1950er-Jahren auf dem „Geschwister-Scholl-Platz“.

     Rede Heinemann 1971Reden Gustav Heinemanns zur Reichsgründung und zum 100. Geburtstag Friedrich Eberts, Stuttgart 1971 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    DDR: Der Versuch, Bismarck verschwinden zu lassen

    Einen solcherart zivilen Umgang mit Bismarck gab es in der DDR nicht. Dort standen er und das Kaiserreich für die reaktionären Beharrungskräfte von Adel, Großkapital und Militarismus. In den stalinistisch geprägten ersten Regierungsjahren Walter Ulbrichts fiel Bismarcks Geburtshaus in Schönhausen dem antimonarchistischen Furor ebenso zum Opfer wie das Berliner Stadtschloss der Hohenzollern. Die Artefakte der Bismarck-Ehrungen im öffentlichen Raum verschwanden konsequent. Erhalten blieben lediglich einige Denkmalssockel und umbenannte Türme.

    Im Laufe der Jahrzehnte wandelte sich die ideologisch starre Sicht der Vordenker in Partei und Wissenschaft. Die „sozialistische“ Nation begab sich auf die Suche nach dem „progressiven Erbe“ in der deutschen Geschichte. Neben Luther, Melanchton, Lessing, Goethe und Schiller rückte, wenn auch mit erheblichen Vorbehalten, sogar Bismarck ein wenig aus dem Dunkel. Im Rahmen der in Ost und West am Beginn der 1980er-Jahre zu verzeichnenden Preußen-Renaissance durfte die friedenssichernde Bündnispolitik Bismarcks durch die Wissenschaft eine positivere Würdigung erfahren. Allerdings blieb die Breitenwirkung dieser zumindest ansatzweisen Revision des Kaiserreichs beschränkt. Zu eingefahren waren die ideologischen Bahnen in Ministerien und Verwaltungen, in Universitäten, Schulen, politischer Agitation in Betrieben und in der Presse. Bis zur Abstimmung mit den Füßen im Sommer und Herbst 1989 blieb eine Neubewertung der Vorgeschichte der „sozialistischen Nation“ im 19. Jahrhundert auf akademische Eliten beschränkt.

     DDR Sammelkarte ReichsgruendungSammelalbum „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, zweiter Teil, 1871 – 1918“, 1956 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)