Reichskanzler

    1871 – 1890


    Für seine Verdienste um die Gründung des Deutschen Reiches ernannte Kaiser Wilhelm I. Otto von Bismarck am 21. März 1871 zum Reichskanzler und erhob ihn gleichzeitig in den erblichen Fürstenstand. Seine Ämter als preußischer Ministerpräsident und Außenminister (seit 1862) sowie als Minister für Lauenburg (seit 1865) behielt er bei. Zudem schenkte ihm der Monarch in seiner Stellung als Herzog von Lauenburg am 24. Juni die östlich von Hamburg gelegene Domäne Schwarzenbek mit dem Sachsenwald.

     

    Kanzlerdiktatur? Das „System Bismarck“

    Als Reichskanzler leitete Bismarck alle Angelegenheiten, die in der Regierungsgewalt des Kaisers lagen, und als Ministerpräsident bestimmte er die Richtlinien der preußischen Politik. Zeitgenössische Kritik von liberaler, aber auch von konservativer Seite, Bismarck regiere wie ein „Diktator“, war unzutreffend. Wenngleich er durch die Ämterfülle und dank der besonderen Vertrauensposition beim Kaiser die politische Bühne beherrschte, war er kein allmächtiger Staatsmann. So benötigte Bismarck zur Durchführung von Gesetzesvorhaben der Zustimmung des Parlaments (Reichstag) und der Vertretung der Bundesstaaten (Bundesrat). Außerdem hatte sich die Bevölkerung allgemein politisiert und nahm über die Parteien an der politischen Willensbildung aktiv teil. Das Kaiserreich war somit kein reiner Obrigkeitsstaat, aber die Weiterentwicklung des politischen Systems hin zu einer parlamentarischen Monarchie wurde von Bismarck blockiert. Preußens Vorrang als größter Bundesstaat blieb ebenso unangetastet wie die starke Stellung des Monarchen und seiner Regierung gegenüber dem Reichstag und den Parteien.

    Es gelang Bismarck, mit tatkräftiger Unterstützung liberaler und gemäßigt konservativer Kräfte den inneren Reichsausbau durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Reformen sowie die Vereinheitlichung von Rechtsvorschriften voranzutreiben. Damit wurden die Grundlagen für einen Wirtschaftsaufschwung sowie den modernen Rechts- und Verwaltungsstaat gelegt. Ende der 1870er-Jahre endete die Ära einer engen Zusammenarbeit des Reichskanzlers mit den Liberalen, und Bismarck wandte sich wieder verstärkt den Konservativen zu.

    1876 Berufung ins HerrenhausOtto von Bismarck am 7. März 1871, Fotografie von Loescher & Petsch (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)
    Der „Eiserne Kanzler“ – Konfrontationspolitik nach innen

    Während die Mehrheit der Deutschen die Reichsgründung begrüßte, standen Sozialisten, Katholiken sowie die nationalen Minderheiten (Dänen, Elsässer, Lothringer, Polen) dem neuen Reich mit Skepsis gegenüber. Anstatt diese Gruppen in den Nationalstaat einzubinden, betrachtete Bismarck sie als Bedrohung und bekämpfte sie daher mit gesetzlichen wie auch polizeilichen Maßnahmen.

    Aus innen- wie außenpolitischen Motiven kämpfte er seit 1871 – unterstützt von den Liberalen – mit Gesetzen und Verordnungen gegen einen vorgeblichen Machtanspruch des Papstes, eine angebliche Einkreisungsallianz katholischer Mächte und die katholische Zentrumspartei. Im Kern ging es dabei um die Durchsetzung des staatlichen Machtanspruchs gegenüber der katholischen Kirche, deren Einfluss in Staat und Gesellschaft zurückgedrängt werden sollte. Eine für Bismarck schmerzhafte Folge dieses „Kulturkampfes“, dessen schrittweise Beendigung er 1878 durch einen Politikwechsel einleitete, war das Attentat, das Eduard Kullmann am 13. Juli 1874 in Kissingen auf ihn verübte. Bismarck wurde dabei leicht verletzt.

    Ende der 1870er-Jahre konzentrierte sich Bismarck bei seinem Kampf gegen mutmaßliche innere Feinde auf die Sozialdemokratie, die als vermeintliche „Umsturzpartei“ für zwei Anschläge auf Wilhelm I. verantwortlich gemacht wurde. Der Reichskanzler nutzte dies 1878 als Vorwand für die Einführung des „Sozialistengesetzes“, das zeitweise alle sozialdemokratischen Organisationen sowie die Parteipresse verbot. 1890 scheiterte im Reichstag die von Bismarck gewünschte erneute Verlängerung und Verschärfung des Gesetzes.

    Auch die nationalen Minderheiten betrachtete der Reichskanzler als mögliche Bedrohung. Anstatt ihnen eine gewisse kulturelle Eigenständigkeit zu gewähren, sollte eine Germanisierungspolitik, insbesondere in den preußischen Ostprovinzen, ihr Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Nation stärken.

    Diese Konfrontationspolitik im Innern stieß auf den erbitterten, aber gewaltlosen Widerstand der betroffenen Bevölkerung und erwies sich am Ende als Fehlschlag. Die vermeintlichen „Reichsfeinde“ gingen gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor und bewahrten ihr Misstrauen gegenüber dem preußisch-protestantisch dominierten Nationalstaat, was eine Überwindung der politischen wie gesellschaftlichen Gegensätze langfristig verhinderte.

     1871 07 03 BismarckKaiser Wilhelm I. beruft am 1. Juli 1876 Otto von Bismarck mit erblichem Recht auf Sitz und Stimme in das Preußische Herrenhaus (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Die Sozialreformen

    Um die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen des Übergangs Deutschlands vom Agrar- zum modernen Industriestaat abzumildern, führte die Regierung in den 1880er-Jahren umfassende Sozialreformen durch. Auf diese Weise sollte die Arbeiterschaft für den monarchischen Nationalstaat gewonnen und die Sozialdemokratie geschwächt werden. Neben dem von Bismarck 1878/79 eingeleiteten Übergang von der Freihandels- zur Schutzzollpolitik war dies ein weiteres Motiv, um im September 1880 die Leitung des preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe zu übernehmen.

    Mit der „Kaiserlichen Botschaft“ vom 17. November 1881 präsentierte er dem Reichstag ein umfangreiches Programm, das drei verschiedene Sozialversicherungen aufwies. Die zwischen 1883 und 1889 eingeführten Kranken-, Unfall und Invaliditätsversicherungen waren für die Masse der Industrie- und Landarbeiterschaft verpflichtend und wurden durch unterschiedliche Beitragssysteme finanziert.

    Diese sozialpolitischen Maßnahmen trugen zwar zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft bei und wirkten als Vorbild für andere westliche Staaten. Doch die Forderungen nach politischer und gesellschaftlicher Gleichberechtigung der Arbeiter wurden nicht erfüllt. Daher gelang es der Regierung nicht, die Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie zu entfremden.

     Segen der Altersversicherung 1890Der Segen der Alters- und Invalidenversicherung, Holzstich, um 1890 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung / Reproduktion: Jürgen Hollweg)

    Der „Weichensteller“ Europas? Bismarcks Außen- und Kolonialpolitik

    Die Gründung des deutschen Nationalstaats veränderte das europäische Staatensystem. In der Mitte des Kontinents entstand ein Machtzentrum mit 41 Millionen Einwohnern, dem aufgrund seiner Bevölkerungszahl, militärischen Kraft sowie wirtschaftlichen Stärke eine Führungsrolle zufallen sollte.

    Das Deutsche Reich war aufgrund seiner geografischen Lage in der Mitte Europas besonders gefährdet. Zu Bismarcks größten Befürchtungen gehörte die Bildung feindlicher Allianzen und die Verwicklung Deutschlands in einen Zweifrontenkrieg. Um diese Gefahr zu bannen, nutzte er Interessengegensätze der Großmächte inner- wie außerhalb Europas aus, um die Sicherheit des Reiches sowie den europäischen Frieden zu festigen. Damit verbunden war die Schaffung eines Bündnissystems, das eine Reihe europäischer Staaten umfasste, aus dem das 1871 besiegte Frankreich als „Hauptgefahr für die Zukunft“, wie Bismarck meinte, aber ausgeschlossen wurde. Dieses sollte auf längere Sicht isoliert werden, um dessen Revanchepolitik den Boden zu entziehen.

    Fcher vom Berliner KongressEin besonderes Souvenir: Zur Erinnerung an den Berliner Kongress im Sommer 1878 unterschrieben 24 Teilnehmer auf einem Fächer. (© Otto-von-Bismarck-Stiftung / Fotograf: Jürgen Hollweg)

     

    Grundlage des bismarckschen Bündnissystems bildete zunächst das Dreikaiserabkommen vom 22. Oktober 1873 mit den konservativen Mächten Österreich-Ungarn und Russland. Es diente der Sicherung des europäischen Friedens wie dem Erhalt des monarchischen Prinzips vor revolutionären Umtrieben. In der 1875 als Reaktion auf französische Rüstungspläne von Bismarck provozierten „Krieg-in-Sicht“-Krise signalisierten Großbritannien und Russland dem Reichskanzler, dass sie eine erneute militärische Niederwerfung Frankreichs und eine weitere Machtausdehnung Deutschlands nicht tolerieren würden. Angesichts dieser außenpolitischen Niederlage beschränkte sich Bismarck zukünftig auf eine Diplomatie des Gleichgewichts der Mächte.

    1878 drohte als Folge des Sieges Russlands über das Osmanische Reich ein weiterer Krieg auszubrechen. Bismarck gelang es auf dem Berliner Kongress jedoch, durch seine Vermittlertätigkeit zwischen den Großmächten einen europäischen Flächenbrand zu verhindern. Da sich Russland um einen Großteil seiner Siegesbeute gebracht sah, was Bismarck angelastet wurde, verschlechterten sich die deutsch-russischen Beziehungen, wozu auch die deutsche Schutzzollpolitik ihren Beitrag leistete. Zudem zerbrach angesichts der Balkankrise das Dreikaiserabkommen, weil Österreich-Ungarn (wie auch Großbritannien) seine Interessen im „Orient“ (Balkan) durch die russische Regierung missachtet sah. Die Habsburgermonarchie, die mit Russland um Einflusszonen auf dem Balkan wetteiferte, näherte sich dem Deutschen Reich an. Beide Mächte schlossen auf Initiative Bismarcks 1879 den Zweibund, der 1882 durch den Beitritt Italiens zum Dreibund erweitert wurde, wobei sich 1883 noch Rumänien dieser Allianz anschloss.

     Kolonial ZeitungTitelblatt der Deutschen Kolonialzeitung vom 1. November 1884 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung / Fotograf: Jürgen Hollweg)

    Bereits zwei Jahre zuvor war es dem Reichskanzler aber gelungen, Russland an den Zweibund heranzuziehen und im Drei-Kaiser-Bündnis zur Neutralität im Kriegsfall zu verpflichten. 1884 erneuert, zerbrach das Bündnis jedoch an der österreichisch-russischen Rivalität auf dem Balkan. Immerhin schlossen Deutschland und Russland 1887 den Rückversicherungsvertrag, in dem sich beide Mächte wohlwollende Neutralität zusicherten. Dessen Nichtverlängerung drei Jahre später führte schließlich zur ohnehin schon eingeleiteten Hinwendung Russlands zu Frankreich. Der mit Unterstützung Bismarcks zwischen Österreich, Italien und Großbritannien 1887 geschlossene Orientdreibund sollte die Machtverhältnisse im Mittelmeerraum stabilisieren, was eine weitere Isolierung Frankreichs sowie eine Annäherung Großbritanniens an den Dreibund zur Folge hatte.

    Ein Bündel von außen-, Handels- und innenpolitischen Motiven führte Mitte der 1880er-Jahre zu einem kurzzeitigen Ausgreifen Deutschlands nach Übersee. In diesem außenpolitisch ruhigen Zeitraum ergab sich eine Möglichkeit für Bismarck, der im Grunde keine Sympathie für eine deutsche Kolonialpolitik aufbrachte, mit Frankreich über eine Einigung in kolonialpolitischen Fragen eine Entspannung in Europa herbeizuführen. Die Zusammenarbeit mit Frankreich fand ihren Höhepunkt auf der Berliner Afrikakonferenz („Kongokonferenz“, 1884/85), endete aber abrupt nach einem Regierungswechsel in Paris (1885). In dieser kurzen Zeitspanne wurden die Grundlagen für die deutschen Besitzungen (Schutzgebiete) in Afrika sowie im pazifischen Raum gelegt.

    Es war Bismarck seit 1871 gelungen, durch außenpolitische Flexibilität und Zurückhaltung den Frieden zu erhalten und Deutschlands Sicherheit zu gewährleisten. Allerdings erwies sich sein Bündnissystem angesichts wachsender Spannungen zwischen den Großmächten, insbesondere auch zwischen den Verbündeten Deutschlands, als zunehmend brüchig.

    Tischgong AfrikaDiesen Tischgong erhielt Otto von Bismarck als Geschenk. Auf der einen Seite zeigt er eine stilisierte Darstellung der Afrika-Konferenz 1884/85, auf der anderen eine freundliche europäisch-afrikanische Begegnung, die nicht der historischen Realität entsprach. (© Otto-von-Bismarck-Stiftung / Fotograf: Jürgen Hollweg)

     

    Die Last der Ämter

    Die hohe Arbeitsbelastung, über die Bismarck bereits in den 1860er-Jahren geklagt hatte, wirkte sich in den darauffolgenden Jahren ebenso schädlich auf seine Gesundheit aus, wie sein Tabak- und Alkoholkonsum in Verbindung mit der großen Anzahl von Speisen, die er über den Tag verteilt vertilgte. 1879 brachte der Reichskanzler rund 123 Kilogramm auf die Waage. Mit den Pfunden stiegen auch die Klagen Bismarcks über sein körperliches Befinden. Zeitweise zog sich der Reichskanzler über Monate zur Erholung auf seine Güter zurück. Erst dem seit 1883 in seinen Diensten stehenden bayerischen Arzt Ernst Schweninger gelang es, das Gewicht durch eine Umstellung der Ernährung – gelegentliche Rückfälle kamen vor – deutlich zu reduzieren und durch medizinische Maßnahmen die Gesundheit des Reichskanzlers weitgehend wiederherzustellen. So konnte dieser 1885 in stabilem Zustand seinen 70. Geburtstag sowie sein 50. Dienstjubiläum feiern.

     

    1886 Einladung ParadeDiner VorderseitePersönliche Einladung für Otto von Bismarck zu einem Parade-Diner am 21. März 1886 im Berliner Schloss (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)