Bismarck als Ministerpräsident
1862 bis 1871
„Der letzte Bolzen der Reaktion“?
Am 23. September 1862 übernahm Bismarck das Amt des preußischen Ministerpräsidenten. Zunächst vertrat er nur als „Vorsitzender des Staatsministeriums“ den erkrankten Karl Anton Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen. Am 8. Oktober wurde er dann Präsident des Staatsministeriums und Außenminister. „Arme Mama, wie bitter wird gerade dieses ihres Todfeindes Ernennung sie schmerzen“, notierte Kronprinz Friedrich Wilhelm in seinem Tagebuch.
Ob es Preußens neuem Regierungschef gelingen würde, die Heeresreform durchzusetzen, war mehr als fraglich. Im Abgeordnetenhaus formierte sich heftiger Widerstand vor allem gegen das Herzstück der Reform: Die Landwehr – das Symbol des „Volks in Waffen“ – sollte reduziert werden. Nur wenige Abgeordnete wollten Bismarck kompromisslos unterstützen. „Mit der Verwendung dieses Mannes“, schrieb der Publizist Ludwig von Rochau, „ist der schärfste und letzte Bolzen der Reaktion von Gottes Gnaden verschossen. Wenn er auch manches gelernt und verlernt haben mag, ein vollgültiger Staatsmann ist er keinesfalls, sondern nur ein Abenteurer vom allergewöhnlichsten Schnitt, dem es lediglich um den nächsten Tag zu tun ist.“
„Eisen und Blut“
Rochau sollte sich gewaltig täuschen. 28 Jahre blieb der neue Ministerpräsident im Amt, obwohl er nach wenigen Tagen seinem schlechten Image gerecht zu werden schien. „Nicht auf Preußens Liberalismus“, behauptete Bismarck Ende September 1862 vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses, „sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; […] nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“
Es entrüstete sogar wohlmeinende Zeitgenossen, dass der Regierungschef in aller Offenheit die Macht des Staates gegen das Recht setzte. „Du weißt, wie leidenschaftlich ich Preußen liebe“, schrieb der Historiker Heinrich von Treitschke. „Höre ich aber einen so flachen Junker wie diesen Bismarck von dem ‚Eisen und Blut‘ prahlen, womit er Deutschland unterjochen will, so scheint mir die Gemeinheit nur noch durch die Lächerlichkeit überboten.“
Regieren ohne parlamentarische Basis
Da es Bismarck nicht gelang, sich mit dem Abgeordnetenhaus zu verständigen, regierte er seit Anfang 1863 ohne parlamentarische Basis. Er berief sich dabei auf die „Lückentheorie“. Die preußische Verfassung, so sein Argument, enthalte keine Aussagen darüber, wie im Fall eines unüberwindlichen Konflikts zwischen den maßgeblichen Gewalten, der Krone und der beiden Häuser des Landtags, zu verfahren sei. „Wer die Macht in Händen hat, der geht dann in seinem Sinne vor, weil das Staatsleben auch nicht einen Augenblick stillstehen kann.“
Auf der politischen Ebene wollte Bismarck also seinen Kurs gegen alle Widerstände durchzusetzen. Auf wirtschaftlichem Gebiet hingegen war er durchaus bereit, seinen liberalen Widersachern entgegenzukommen. Am 1. Juli 1865 trat ein Freihandelsvertrag mit Frankreich in Kraft, durch den Preußen Anschluss an das westeuropäische Handelssystem fand. So sehr die Liberalen die handelspolitische Öffnung auch begrüßten, so wenig mochten sie sich damit zufriedengeben. Auch die außenpolitischen Erfolge Preußens wie etwa der Gewinn der Herzogtümer Schleswig und Holstein im Krieg gegen Dänemark 1864 oder der militärische Sieg über Österreich 1866 reichte ihnen nicht aus. Die Liberalen verlangten, dass Bismarck zugab, seit 1862 verfassungswidrig zu regieren. Dazu aber war Preußens Ministerpräsident nicht bereit. Er überlegte immerhin, wenigstens die Haushaltsausgaben nachträglich vom Landtag bewilligen zu lassen. Dies wiederum lehnte Wilhelm I. als „Eingeständnis begangenen Unrechts“ ab.
Brückenschlag zu den Liberalen
Im Gegensatz zu seinem König wie auch zu seinen konservativen Unterstützern erkannte Bismarck allerdings, dass er den Verfassungskonflikt nicht dauerhaft lodern lassen konnte. Denn die Monarchie der Hohenzollern würde sich nur behaupten, wenn sie den aufstrebenden Kräften des Bürgertums und der liberalen Nationalbewegung entgegenkäme. Am Ende schwieriger Beratungen mit dem König und heftiger Auseinandersetzungen im Landtag gelang es dem Ministerpräsidenten Anfang September 1866, einen Kompromiss durchzusetzen. Die Mehrheit der Abgeordneten akzeptierte ein Indemnitätsgesetz, durch das die preußischen Staatshaushalte seit 1862 rückwirkend gebilligt wurden. Im Gegenzug gestand Bismarck ein, die preußische Verfassung gebrochen zu haben. Außerdem sicherte er zu, das Budgetrecht des Parlaments künftig zu achten.
Dass die beiden großen politischen Bewegungen – die Fortschrittspartei und die Konservativen – im Streit über diesen Kompromiss zerbrachen, kam Bismarck durchaus gelegen. Denn es formierte sich eine neue Nationalliberale Partei, die ihm künftig bei wichtigen politischen Ereignissen als parlamentarische Basis dienen sollte: bei der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867, beim Abschluss eines neuen Zollvereinsabkommens mit den süddeutschen Staaten 1868 und auch 1871 bei der Gründung des Deutschen Reiches.