Bismarck heute
1990 – 2022
Seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 durchlebt Deutschland einen anhaltenden Wandel der Erinnerungskultur. Eine Bilanz über den Umgang der Deutschen mit Bismarck in dieser Epoche zu ziehen, ist bislang nicht möglich. Lediglich einige grobe Etappen lassen sich beschreiben.
Am Anfang stand eine Ausstellung in Berlin in der zweiten Jahreshälfte 1990. Unter der Überschrift „Bismarck: Preußen, Deutschland und Europa“ hatten die Ausstellungsmacher des Deutschen Historischen Museums dieses Projekt im schmalen Zeitfenster zwischen dem Mauerfall im November 1989 und dem Verschwinden der DDR von der Landkarte kaum ein Jahr später umgesetzt. Kritisch beäugt vor der Dynamik einer unerwartet raschen Wiedervereinigung Deutschlands samt dem Zufall einer gewonnenen Fußballweltmeisterschaft, stand die Beschäftigung mit Bismarck hier in erster Linie für das fortgeschriebene Interesse an der preußisch-deutschen Geschichte in den 1980er-Jahren: die sogenannte Preußen-Renaissance.
Keine Bismarck-Renaissance
Dass nun auch Ostdeutsche in den direkt hinter der Mauer befindlichen Martin-Gropius-Bau, dem Ausstellungshaus, kommen konnten, führte ebenso wenig wie das kurze patriotische Hochgefühl der Feierlichkeiten der Wiedervereinigung zu einer Bismarck-Renaissance. Eher war das Gegenteil der Fall: Ein beeindruckender Bildband dokumentierte 1991 ein Desinteresse, das sich im „Verrat der Denkmäler“ äußerte, die in der Bundesrepublik vielerorts ungepflegt verwitterten. Auch die wenigen Rückbenennungen von Bismarck-Straßen in den neuen Bundesländern und die dort in den 1990er-Jahren wiedereinsetzende Pflege und Sanierung von Bismarck-Türmen erzeugte kein Bismarck-Revival.
Die Otto-von-Bismarck-Stiftung
Eine gegenläufige Entwicklung setzte auch nicht mit der Gründung der Otto-von-Bismarck-Stiftung ein, die 1997 im Kreis der Politikergedenkstiftungen des Bundes ihre Arbeit aufnahm. Im historischen Bahnhofsgebäude von Friedrichruh bei Hamburg leisten Historiker und Museumpädagogen seit dem Jahr 2000 durch die intensive Beschäftigung mit Otto von Bismarck, seiner Zeit und deren Nachwirkung Bildungs- und Forschungsarbeit. In Sichtweite des dortigen Bismarck-Museums, des Bismarck-Mausoleums und seit 2007 auch im Bismarck-Museum in Schönhausen werden dabei seit einem Vierteljahrhundert in wissenschaftlicher und didaktischer Vermittlungsarbeit der Namensgeber und seine Epoche historisch-kritisch untersucht. Die Otto-von-Bismarck-Stiftung ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Orte der Demokratiegeschichte und mit ihrem Standort in Schönhausen ausgezeichneter Ort im „Land der Ideen“.
Eine europäische Debatte
An den einstigen diplomatischen Hotspots in Berlin, Paris, London und St. Petersburg erzielten die Fachleute zwar keinen Konsens darüber, wie die Politik Bismarcks zu bewerten sei. Aber dadurch, dass der erste Reichskanzler konsequent als historische Figur verstanden wurde, entstand über die alten nationalgeschichtlichen Gräben hinweg ein fachlicher Austausch, in dem die verschiedenen europäischen Erinnerungskulturen ihren Platz gefunden haben.
Auch die Bismarck-Biografien, die rund um das Jubiläum erschienen, sahen ihren Gegenstand zwar kontrovers, gaben aber keinen Anlass zu einer Kontroverse, wie es sie in der Nachkriegszeit zwischen „weißer“ und „schwarzer“ Bismarck-Legende gegeben hatte. Und ganz profan: Die vom Bundesfinanzministerium herausgegebene Jubiläumsbriefmarke mit Bismarcks Konterfei wurde so lange im Briefverkehr benutzt, bis die nächste Portoerhöhung den etwas holprigen Wert von 62 Cent überflüssig machte.
Die historische Figur bleibt umstritten
Umstritten bleibt Bismarck dennoch, wenn auch auf eher indirekte Weise. Die ihm gesetzten Denkmäler führen in postkolonial aufgeladenen Diskussionen der vergangenen Jahre etwa dann zu Widerspruch und dem Wunsch nach Kommentierung, wenn aus konservatorischen Gründen öffentliche Gelder für ihren Erhalt verwendet werden. In breiten zivilgesellschaftlichen Diskussionen werden die historische Figur und die Vorstellung, die sich die zeitgenössischen Verehrer von ihr machten, in den globalen Implikationen der kaiserzeitlichen Politik neu verhandelt. Neben dem Reichsgründer rückt dabei auch der Kolonialreichsgründer in den Blick.