Politische Vereinnahmung
1919 - 1945
Die Bismarck-Anhänger verarbeiteten die Entlassung des „Alten“ im März 1890 und seinem Tod im Juli 1898 auf ihre Weise: Sie schmückten den Bismarck-Mythos immer blumiger aus. Aber ihre Lesart der Geschichte der Reichsgründung, die ganz auf Bismarck konzentriert war, kam mit der Novemberrevolution, der Abdankung des Kaisers und der Niederlage im Ersten Weltkrieg an ein jähes Ende. Nach vier Kriegswintern standen auch diejenigen vor den Trümmern der alten Ordnung, die bis zum Juli 1914 noch an die „gute alte Zeit“ geglaubt hatten. Zwar blieb Deutschland nach den Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung als Bundesstaat erhalten, der auch weiterhin den Namen „Deutsches Reich“ führte. Aber die Gebietsverluste, die Reparationsforderungen und die Alleinschuld am Ausbruch des Krieges, die Deutschland und seinen Verbündeten im Versailler Vertrag zugeschrieben wurde, galt vielen als das demütigende Gegenteil der Erfolge von 1870/71.
Die republikfeindliche Rechte sucht sich einen Sinnstifter
In diesem Klima der Not und Unsicherheit übersah nicht nur die politische Rechte, dass es durch eine Besetzung oder Zerschlagung Deutschlands noch schlimmer hätte kommen können. Die sogenannte Dolchstoßlegende verbreitete die Mär einer „im Felde unbesiegten“ Armee, die von inneren Feinden hinterrücks erdolcht worden sei. Monarchisten, radikale Rechte und zum Teil auch nationalliberale Kreise bis in die Mitte der Gesellschaft machten die Verräter in jenen sozialdemokratischen (und nun auch kommunistischen) „Reichsfeinden“ aus, die schon in der Bismarckzeit als „vaterlandslose Gesellen“ gegolten hatten. Die antirevolutionäre Regierungsarbeit der Mehrheitssozialdemokratie in den ersten Jahren der Republik wurde in dieser diffamierenden Fundamentalkritik absichtsvoll übersehen.
Bismarck wurde als „Eiserner Kanzler“ von der monarchistischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und ihrem politischen Milieu, das zum Teil offen reaktionär agierte, zum Sinnstifter der republikfeindlichen Rechten gemacht. Die Überhöhung seiner Person und die Glorifizierung der „Ära Bismarck“ verdeckten die Widersprüche seiner Zeit mit dem Ziel, die Verwerfungen der ungeliebten Gegenwart umso greller auszuleuchten. Dass es sich dabei um durchsichtige Geschichtspolitik handelte, mit der die verklärenden Erinnerungen nicht weniger Deutscher bewirtschaftet wurden, erkannten aufmerksame Zeitgenossen wie der Sozialdemokrat Friedrich Stampfer. Er sprach 1931 im Zusammenhang mit dem 60. Jubiläum der Reichsgründung treffend von einem „Bürgerkrieg der Erinnerungen“, der im Gedenken an das Kaiserreich ausgefochten werde. Und eine kritische Stimme wie der Heidelberger Jurist Hermann Kantorowicz hatte schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen, als er den „Schatten Bismarcks“, der von der antirepublikanischen Rechten „über den jungen Baum der Demokratie“ geworfen werde, für deren Wachstumsschwäche verantwortlich machte.
Auch Bürgerliche und Arbeiter pilgerten nach Friedrichsruh
Allerdings lag auch hier die Wahrheit in der Mitte. Die Rechte bediente sich zwar der Figur Bismarcks, aber deren Wirkung erstreckte sich in einer Art nationalem Phantomschmerz bis weit in die Mitte der verunsicherten Gesellschaft hinein: An den studentischen Fackelmärschen zu den Bismarcktürmen und den Reichsgründungsfeiern nahm auch das liberale Bürgertum teil. Die heroische Kanonisierung Bismarcks neben dem Reformator Martin Luther und dem preußischen König Friedrich II. erreichte sogar die Arbeiter und Angestellten jenseits der Sozialdemokratie und dem Kolonialreich trauerten in öffentlichen Verlautbarungen fast alle politischen Lager nach. Die Pilgerstätte Friedrichsruh faszinierte nicht nur als Gedenkort für Monarchisten, sondern lockte in einer aus der historischen Distanz heute schwer begreiflichen Mischung aus Anerkennung der politischen Leistung und Ablehnung der verwendeten Methoden auch linke Denker wie den jungen Willy Brandt.
Das NS-Regime inszeniert sich vor der Kulisse des Kaiserreichs
Dieser mehrdimensionalen Resonanzfähigkeit der immer weiter in die Geschichte rückenden Chiffre Bismarck waren sich auch Hitler und seine schon dem Namen nach mit Bismarck unvereinbare Nationalsozialistische Arbeiterpartei bewusst. Beim „Tag von Potsdam“ inszenierte sich die neue Reichsregierung am 21. März 1933 in den Kulissen des Kaiserreichs, das in der Person des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg den Handschlag über die Jahrzehnte hinweg bot: Der 85jährige Generalfeldmarschall war in den Augen der Öffentlichkeit nicht nur das Gesicht der Obersten Heeresleitung des Ersten Weltkriegs, sondern als Teilnehmer der Schlacht von Königgrätz und Fahnenträger bei der Kaiserproklamation auch die Personifizierung des 1871 gegründeten Bismarckreichs.
Das in dieser Geste liegende Legitimationspotential kann kaum zu hoch eingeschätzt werden, denn für die meisten der im Jahr 1933 durchschnittlich 33 Jahre alten Deutschen lag die Regierungszeit des Reichsgründers in einer fernen, von Eltern und Großeltern idealisierten Vergangenheit. An deren Traditionshaushalt dockten die Nationalsozialisten an, wenn auch nur vordergründig. Denn schneller als die alten Eliten ahnten, emanzipierten sich die totalitären Machthaber, deren Führerkult bald die etablierten historischen Vorbildfiguren zur geschickt eingesetzten Staffage machte. So wurden in den Friedensjahren der NS-Diktatur mehr Bismarck-Straßen benannt als zuvor. 1939 lief in Hamburg das größte deutsche Schlachtschiff vom Stapel, das Hitler persönlich auf den Namen „Bismarck“ taufte. Und in zwei aufwendigen Propaganda-Filmen wurde Bismarck 1940 und 1942 zum Vorgänger Hitlers stilisiert – oder letzterer zu dessen legitimem Nachfolger, je nach Sichtweise.
Im Grunde aber konnten die Nationalsozialisten mit Bismarck wenig anfangen, wie die Versetzung seines Denkmals von seinem Standort vor dem Reichstag an die Siegessäule im Jahr 1938 zeigte. Die Erwähnung des Namens des Reichsgründers in den Reden Hitlers nahm rapide ab, als nach der Machtergreifung die bürgerlich-konservativen Eliten nicht mehr umworben werden mussten. Im Zweiten Weltkrieg verschwand Bismarck immer mehr aus der Propaganda. Ein Sinnbild für diese schleichende Distanzierung war das Einschmelzen etlicher Bismarck-Denkmäler als Rohstoff für die Rüstungsgüterproduktion.