Brief an Kronprinz Wilhelm, [Berlin, den 9.] Mai 1888

     

    Aus Ew. Kaiserl[iche]. Hoheit Randbemerkungen zu dem Wiener Bericht vom 28. April und zu meiner Antwort auf denselben vom 3. Mai ersehe ich, daß Höchstdieselben mit der bisher nach den Intentionen des hochseligen Kaisers geführten Politik nicht einverstanden sind, sondern mehr mit der Aeußerung des Grafen Kálnoky, daß die Generalstabsoffiziere, welche im Herbst riethen, die Russische Macht zu „zertrümmern“, Recht hatten.

    Nach menschlicher Voraussicht wird, bevor eine längere Zeit vergeht, die Entscheidung über Krieg und Frieden ausschließlich in der Hand Ew. K. H. liegen. Diese Thatsache verleiht jeder Andeutung, welche von Höchstdenselben auf diesem Gebiete ausgeht, ein Gewicht, welches mir nicht gestattet, Ew. K[aiserlicher]. H[hoheit]. Randbemerkungen stillschweigend zu den Akten des Auswärtigen Amts gehen zu lassen. Ich darf mir nicht mit der Hoffnung schmeicheln, daß eine erneute Darlegung der Motive, welche für die bisherige friedliche und abwartende Politik sprechen, neue Gesichtspunkte zu Tage fördern könnte, welche Ew. K[aiserlicher]. H[hoheit]. Erwägung nicht bereits unterlegen hätten. Ich erlaube mir nur mit Rücksicht auf die mögliche Zerstörung der „Kampfesmittel“ Rußland‘s unterthänigst zu bemerken, daß wir diejenigen Frankreichs 1870 in einer Vollständigkeit zerstört haben, wie es Rußland gegenüber wegen dessen geographischer Ausdehnung niemals gelingen wird; nichtsdestoweniger war Frankreich schon 4 Jahre später wiederum eine Macht, mit welcher die Politik zu rechnen hatte, und insbesondere eine vorausschauende Politik in großem Style, welche ihre Aspirationen nicht den Verhältnissen eines einzelnen Jahres entnehmen kann, sondern längere Zeiträume ins Auge fassen muß. Schon zur Zeit der Luxemburger Frage 1867 habe ich der Voraussicht öffentlich Ausdruck gegeben, daß im Kriegsfalle Frankreich gegenüber der Kampf sich nicht auf ein Kriegsjahr beschränken, sondern Jahrzehnte und mehr ausfüllen werde. Wenn dieselben Consequenzen, wie voraussichtlich, sich an einen von uns freiwillig herbeigeführten Russischen Krieg knüpfen sollten, so würden wir künftig ein zweites Frankreich haben, bereit, jede günstige Gelegenheit zu benutzen, um im Bunde mit Anderen über uns herzufallen. Wir würden in einer solchen Situation, in welcher wir die beiden, nächst der deutschen, stärksten continentalen Militärmächte zu gebornen Gegnern in jedem Kriege hätten, dauernd in eine gewisse Abhängigkeit von der Unterstützung gerathen, welche die übrigen Mächte, in erster Linie Oesterreich, dann auch England und Italien, uns zu leisten geneigt sein würden. Der italienische Bundesgenosse kann durch innere Ereignisse Italiens leicht aus dieser Berechnung schwinden und sogar für den Gegner in die Wagschale fallen. England wird mit seinen inneren Angelegenheiten möglicherweise zu viel zu thun haben, um sich seiner auswärtigen Politik annehmen zu können. Ob uns das Bündniß Oesterreichs gesichert bleibt, ist im Hinblick auf die dort recht starken ultramontanen, slawisch-Russenfreundlichen und in Ungarn und Croatien franzosenfreundlichen, Elemente ebenfalls nicht zweifellos. Jedenfalls würde Oesterreich, wenn es, nach Verbrennung unserer Schiffe in der Russischen Richtung, unsere alleinige Stütze bliebe und wir Rußland und Frankreich als geborene Gegner uns gegenüber hätten, einen analogen Einfluß auf das Deutsche Reich wiedergewinnen, wie wir ihn 1866 mit Glück beseitigt haben. Die Sicherheit unserer Beziehungen zum Oesterreichisch-Ungarischen Staate beruht zum großen Theile auf der Möglichkeit, daß wir, wenn Oesterreich uns unbillige Zumuthungen macht, uns auch mit Rußland verständigen können. Fällt die letztere Möglichkeit fort, so wird Oesterreich ein viel anspruchsvollerer Bundesgenosse werden, als es bisher war, und wenn es Anlehnung bei Rußland findet, vielleicht ebenso anspruchsvoll als zur Zeit des Deutschen Bundestages.

    Ew. K[aiserliche]. H[hoheit]. wollen mir diese Vervollständigung der Argumente für unsere vorsichtige Politik, welche ich wiederholt in Höchstdenselben bekannten Aktenstücken und vor der Oeffentlichkeit geltend gemacht habe, verzeihen und mir die Annahme gestatten, daß auch diese Ew. K[aiserliche]. H[hoheit]. von der Richtigkeit meiner Auffassung nicht überzeugen wird und daß Höchstdieselben fortfahren, es im Sinne der Kálnokyschen Bezugnahme auf militärische Wünsche in dem Wiener Bericht vom 28. April für besser zu halten, daß der Krieg mit Rußland von uns herbeigeführt werde, bevor dessen Streitkräfte sich weiter entwickeln.

    Wenn dies der Fall ist, so hätte unsere Politik seit dem Thronwechsel im März d. J. schon bisher eine andere sein sollen und würde von jetzt ab eine andere werden müssen. Wir hätten dann die Battenbergschen Beziehungen nicht ablehnen dürfen, im Gegentheil den Prinzen Alexander als diesseitigen Candidaten für die Bulgarische Zukunft aufstellen und durch dies und manche andere Mittel Rußland zum Angriff auf Oesterreich oder auf uns, mit unentwickelten Kräften und vor Vollendung seines Aufmarsches, reizen müssen. Wir hätten in Bulgarien und in Constantinopel ohne Schwierigkeit eine dementsprechende Sprache führen, auch Österreich wahrscheinlich veranlassen können, Schritte zu thun, die einen Russischen Angriff provozirt haben würden.

    Für die Energie, mit welcher die deutsche Volkskraft in den Krieg eintritt, wird es immer entscheidend sein, ob der Krieg durch fremden Angriff herbeigeführt oder von uns aus Motiven der höheren Politik, welche sich dem öffentlichen Verständniß entziehen, freiwillig begonnen worden ist. Wenn es in der Absicht des künftigen Kaisers läge, den Krieg zu beschleunigen, so müßten dementsprechende Modificationen unsrer bisherigen Politik sobald als möglich eintreten, und die Möglichkeit dieses Ziel zu erreichen, d. h. Rußland zum Beginn des Krieges seinerseits zu reizen, ist bei geschicktem diplomatischen Verfahren keineswegs ausgeschlossen, sobald man überhaupt glaubt, daß der frühere Krieg der bessere sei. Meine unvorgreifliche Ansicht liegt auch heute nicht in dieser Richtung. Wenn aber die Ueberleitung unsrer Politik aus der bisherigen friedlichen Tendenz in eine kriegerische nach Ew. K[aiserlichen]. H[hoheit]. Intention bevorstände, so würde ich es noch immer für zweckmäßiger halten, den Krieg zuerst im Westen zu suchen als im Osten. Einmal ist er dort leichter und unauffälliger zu finden. Frankreich hat uns mannigfache Anknüpfungspunkte gegeben, die wir nur weiter zu spinnen brauchten, wenn wir Krieg wollen. Wäre letzteres der Fall, so müßte unsere ganze Stellung zu den inneren französischen Fragen, zu Boulanger und der jetzigen Regierung eine andere sein, als sie heut ist; wir müßten Boulanger zu fördern und die Regierung zu schwächen suchen, wozu sich Mittel finden lassen. Der Krieg mit Frankreich würde sich der öffentlichen Meinung Deutschlands gegenüber als ein nothwendiges Opfer, um zur Ruhe zu gelangen, sehr viel leichter motiviren lassen als der Krieg gegen Rußland. Außerdem würde er nach oberflächlichem Urtheil leichter zu führen und schneller abzuschließen sein. Es ist auch anzunehmen, daß ein deutsch-französischer Krieg geführt werden kann, ohne daß wir gleichzeitig zum Kampf gegen Rußland genöthigt würden. Es ist dagegen ganz sicher, daß wir den Krieg auf beiden Seiten haben, sobald wir ihn auf der Russischen Front beginnen, wie es nach dem „Ja“ in der Randbemerkung auf dem Wiener Bericht vom 28. April Ew. K[aiserliche]. H[hoheit]. empfehlen. Die geheimen Verträge, welche wir mit Rußland haben, sind Ew. K[aiserlichen]. H[hoheit]. bekannt. Ihr Text gibt die Gewißheit, daß Rußland beabsichtigt in die „Sackgasse“ hineinzugehen, und es würde schon darin sein, wenn es nicht auf unser Verlangen durch Oesterreichische Opposition daran gehindert würde. Kommt diese Opposition in Wegfall, so hört damit auch die Russische Zurückhaltung auf.

    Ich halte es für meine Pflicht, Ew. K[aiserliche]. H[hoheit]. auf diese Eventualitäten in Ehrerbietung aufmerksam zu machen, und behalte mir unterthänigst vor, über die formelle Seite des Anlasses zu dieser Berichterstattung Ew. K[aiserliche]. H[hoheit]. um mündlichen Vortrag zu bitten, indem ich bemerke, daß die gewichtige Tragweite jeder Randbemerkung Ew. K[aiserlichen]. H[hoheit]. mich nöthigt, die davon betroffenen Aktenstücke absolut zu secretiren. Der Eindruck, den dieselben in den amtlichen Kreisen machen werden, denen die Akten des Ministeriums zugänglich sind, hat nach Ew. K[aiserlicher]. H[hoheit]. Stellung nothwendig die Tragweite, daß die Beamten, welche Kenntniß von Höchstdero Randbemerkungen haben, mich selbst nicht ausgeschlossen, nicht mehr im Stande sein werden, das friedliche Verhalten der deutschen Politik bei einem erfolgenden Regierungswechsel mit derselben Sicherheit wie bisher anderen Regierungen und auch den deutschen Fürsten gegenüber in Aussicht zu stellen. Ich würde, so wie ich Ew. K[aiserlicher]. H[hoheit]. Marginalien verstehe, gegen meine Ueberzeugung sprechen müssen, denn es ist für die Politik des deutschen Kaiserthums der Ruf der Unaufrichtigkeit noch gefährlicher als selbst die entschlossene, aus politischer Ueberzeugung hervorgehende Tendenz, Krieg führen zu wollen. Wenn wir friedliche Versicherungen geben, und daneben ein Wort in dem Sinne transpirirt, daß die Generalstabs-Offiziere Recht gehabt hätten, welche im vorigen Herbst riethen, die Russische Macht zu zertrümmern, so verlieren wir das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit bei unseren Bundesgenossen, und das würde schlimmer sein als selbst ein Krieg, über dessen Nothwendigkeit oder Nützlichkeit verschiedene Meinungen obwalten können.