Brief an Heinrich zu Reuß, Berlin, 9. April 1884

Ich verstehe nicht recht, in welcher Absicht der Graf Kálnoky an die Mittheilung, wie befriedigt der Kaiser Franz Joseph über die Verlängerung des geheimen Vertrages ist, die pessimistischen Auslassungen geknüpft hat, die in Eurer Durchlaucht geheimen Bericht vom 30. v. Mts. N° X wiedergegeben sind.

Fürchtet er Krieg mit Rußland? Ich will nicht darüber streiten, ob der gegenwärtige Zustand als ein Waffenstillstand zu bezeichnen sei, bin aber geneigt, demselben innerhalb eines Zeitraums, für den überhaupt in den internationalen Beziehungen mit einiger Sicherheit Berechnungen gemacht werden können, eine längere Dauer zuzutrauen. Auch unser Friede mit Frankreich ist nicht auf Menschenalter hinaus gesichert und doch gegenwärtig nicht als bedroht anzusehen. Für die nächste Zeit betrachte ich nach Osten hin die Ruhe als gesichert, weil ich nicht zweifle, daß der Kaiser Alexander sein Wort halten wird; daß nach Ablauf der Vertragsfrist Verwicklungen im Orient zu kriegerischen Ereignissen führen müßten, vermag ich nicht abzusehen. Es würde sich doch vielleicht eine Scheidelinie zwischen russischen und österreichischen Interessen im Orient finden lassen, auch wenn nicht, was doch möglich, in Rußland im Laufe der Jahre neue Gestaltungen eintreten sollten.

Ich glaube auch nicht, daß England in der gegenwärtigen unnatürlichen und schädlichen Entfernung von seiner traditionellen Politik beharren wird. Gladstone, der nach außen mehr die Befriedigung seiner persönlichen Antipathien als die Interessen des Staats verfolgt, ist 75 Jahr alt, und sein Bestreben durch die Reformbill die Conservativen für immer von der Regierung auszuschließen kann einen dauernden Erfolg nicht haben. Die Deutschenfeindlichkeit der englischen Politik wird nicht ewig dauern.

Ich sehe endlich in dem „tête-à-tête mit Rußland“ nichts außergewöhnlich Beängstigendes; ähnliche Situationen sind in der europäischen Politik seit Jahrhunderten stets vorhanden gewesen. Wohl aber sehe ich in der Möglichkeit eines solchen eine Mahnung zur Verständigung mit Rußland soweit sie möglich ist; die Divergenz der Orient-Interessen beider ist doch nicht absolut unlösbar.

Eure Durchlaucht ersuche ich ergebenst Sich in diesem Sinne zu äußern, wenn Graf Kálnoky auf seine Befürchtungen zurückkommen sollte.