Brief an Kaiser Wilhelm I., Berlin, 11. Januar 1881

     

    Bei den Verhandlungen über das Gesetz, betreffend die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, ist sowohl von den verbündeten Regierungen als auch aus der Mitte des Reichstags die Nothwendigkeit betont worden, die Gefahren, welchen durch die repressiven Maßregeln jenes Gesetzes entgegen getreten werden sollte, auch durch positive, auf die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen gerichtete Maßnahmen zu bekämpfen. Nachdem die äußeren Ausschreitungen der Sozialdemokratie für jetzt beseitigt sind, erscheint es an der Zeit, dieser Aufgabe näher zu treten.

    Die Lösung derselben wird einer jahrelangen ernsten Arbeit bedürfen und vielleicht niemals zu vollem und definitiven Abschluß gelangen. Es kann sich gegenwärtig nur darum handeln, einen Anfang damit zu machen, und zwar durch Einleitung einer Maßregel, welche einem besonders dringlichen Bedürfnisse abhilft, ohne auf allzu große Schwierigkeiten zu stoßen. Eine solche liegt in der Versicherung der Arbeiter gegen die Folgen aller bei der Arbeit vorkommenden Unfälle, worüber Eurer Majestät ich bereits mündlich unterthänigsten Vortrag gehalten habe. Das bisherige Haftpflichtgesetz deckt nur etwa 20 Procent der vorkommenden Unfälle und involvirt trotzdem im Einzelnen ungerechte Härten gegen den Unternehmer.

    Es ist daher in Anknüpfung an die Eurer Majestät mündlich vorgetragenen Gedanken ein Gesetzentwurf ausgearbeitet, nach welchem alle Fabrikarbeiter bei einer vom Reiche zu errichtenden Anstalt gegen Unfälle zu versichern sind. Die Versicherungsprämien sollen theils von den Landarmenverbänden aufgebracht werden, letzteres jedoch nur, soweit die einzelnen Bundesstaaten nicht vorziehen, die Last anderen Verbänden aufzuerlegen oder selbst zu übernehmen.

    Die Errichtung einer Reichsversicherungsanstalt zu diesem Zwecke ist erforderlich, weil das Gesetz eine Verpflichtung zur Versicherung nicht aussprechen darf ohne gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, daß die Versicherung eine vollkommen sichere und eine möglichst billige sei. Für beides bieten Privatversicherungsanstalten keine genügende Garantie. Nur eine Staatsanstalt gewährt eine unbedingte Sicherheit und vermag, da sie auf jeden Gewinn selbstverständlich verzichtet, zu den denkbar niedrigsten Prämiensätzen zu versichern.

    Daneben hat die Errichtung der Reichsversicherungsanstalt eine erhebliche politische Bedeutung. Soll der Gegensatz gegen die bestehende staatliche und gesellschaftliche Ordnung, in welchen ein großer Theil der Arbeiter gerathen ist, überwunden werden, so muß in diesen das Bewußtsein klarer als bisher werden, daß der Staat ihnen nicht nur Pflichten und Lasten, sondern auch Vortheile und Rechte verbürgt. Nur dadurch können bei ihrem niedrigen Bildungsstande die besitzlosen Klassen dahin geführt werden, den Staat nicht lediglich als eine zum Schutze der besser situirten Klassen erfundene Einrichtung, durch welche ihnen nur Lasten auferlegt werden, anzusehen, vielmehr in ihm eine auch für sie nicht bloß nothwendige, sondern auch für sie selbst wohlthätige Institution zu erblicken.

    Auf diesem Wege in den arbeitenden Klassen das Interesse an der Erhaltung und Ausbildung der staatlichen Einrichtungen zu beleben, ist nicht nur eine Aufgabe konservativer Politik, sondern auch eine Forderung, welche naturgemäß aus der modernen christlichen Staatsidee folgt, und zu deren Lösung das Reich und die Einzelstaaten nicht nur die Gesetzgebung in Thätigkeit zu setzen, sondern auch finanzielle Aufwendungen zu machen haben. Die Armenlast ist in ihrer Gesammtheit keine Gemeinde-, sondern eine Staatslast, welche der Staat bisher durch das Organ der Gemeinde vorzugsweise leistet, ohne sich der prinzipalen Pflicht, die er durch seine Gesetze erst geschaffen hat, entziehen zu können. Er hat die Form der Uebung dieser Pflicht gesetzlich zu bestimmen und die Mittel für ihre Erfüllung zu sichern. Hiernach rechtfertigt es sich, daß das Reich nicht nur die erforderlichen Einrichtungen zur Durchführung einer allgemeinen Unfallversicherung trifft, sondern auch die Einzelstaaten verpflichtet, die dazu erforderlichen Mittel, soweit sie nicht durch die Arbeitgeber und Arbeiter beschafft werden können, durch die Träger der staatlichen Armenlast aufbringen zu lassen oder selbst aufzubringen.

    Indem ich zur Begründung der einzelnen Bestimmungen des beigefügten Gesetzentwurfs auf dessen Motive Bezug nehmen darf, und indem ich bemerke, daß der Entwurf bei den Bundesregierungen, welchen ich denselben zur vorläufigen Kenntnißnahme mitgetheilt habe, im Prinzip keinen wesentlichen Bedenken begegnet, erlaube Eure Majestät ich mir allerunterthänigst zu bitten, durch Vollziehung des beifolgenden Allerhöchsten Erlasses mich zur Vorlegung des Gesetzentwurfs nebst Begründung an den Bundesrath allergnädigst ermächtigen zu wollen.