Brief an König Ludwig II. von Bayern, Kissingen, 4. August 1879
Allerhöchster König,
Allergnädigster Herr!
Die huldreiche Anerkennung, welche Ew. Majestät mir in Allerhöchstdero Schreiben vom 29. v. M. aussprechen, macht mich sehr glücklich und bin ich insbesondere dankbar für die Nachsicht, mit welcher Ew. M. die Schwierigkeiten würdigen, welche durch selbstsüchtige Interessen im Bunde mit den Parteileidenschaften mir in den Weg gelegt wurden.
In wirthschaftlicher Beziehung, in Betreff des Schutzes der deutschen Arbeit und Production, wird meines unterthänigsten Dafürhaltens in der nächsten Zeit etwas Weiteres als das Erreichte nicht zu erstreben, vielmehr die praktische Wirkung abzuwarten sein: und die letztere wird in dem nächsten Jahre sich noch nicht mit Sicherheit erkennen lassen, weil die vom Reichstag beschlossene Hinausschiebung der Einführungstermine dem Auslande noch Gelegenheit zu unverzollter Ueberführung des deutschen Marktes geboten hat. Die gehoffte heilsame Wirkung auf die Hebung unserer materiellen Wohlfahrt wird sich erst nach Ablauf des nächsten Jahres fühlbar machen können.
Auf finanziellem Gebiet, glaube ich aber, wird schon in einer der nächsten Reichstagssitzungen der Versuch zur Eröffnung weiterer Einnahmequellen für die verbündeten Regierungen zu erneuern sein, da die bisherigen vielleicht die Lücken unsres Etats decken, aber nicht ausreichend sein werden, um Reformen der directen Steuern und Unterstützungen der nothleidenden Gemeindeverwaltungen zu ermöglichen.
In politischer Beziehung hat das Ergebniß des Vorgehens der verbündeten Regierungen meinen Erwartungen insofern entsprochen, als die fehlerhafte Gruppirung und Zusammensetzung unserer politischen Parteien und Fractionen durch die betreffenden Verhandlungen einen nachhaltigen Stoß erlitten zu haben scheint. Das Centrum hat zum ersten Male begonnen, sich in positivem Sinne an der Gesetzgebung des Reiches zu betheiligen. Ob dieser Gewinn ein dauernder sein wird, kann nur die Erfahrung lehren. Die Möglichkeit bleibt nicht ausgeschlossen, daß diese Partei, wenn eine Verständigung mit dem römischen Stuhle nicht gelingt, zu ihrer früheren, rein negativen und oppositionellen Haltung zurückkehrt. Die Aussichten auf eine Verständigung mit Rom sind dem äußeren Anschein nach seit dem vorigen Jahre nicht wesentlich gebessert. Vielleicht darf ich aber Hoffnungen an die Thatsache knüpfen, daß der päpstliche Nuntius Jacobini dem Botschafter Prinzen Reuß amtlich den Wunsch ausgesprochen hat, in Verhandlungen einzutreten, zu welchen er von Rom Vollmacht habe. Die Tragweite der letzteren kenne ich noch nicht, habe mich aber auf den Wunsch des Nuntius bereit erklärt, mich im Laufe dieses Mts. in Gastein mit ihm zu begegnen und zu besprechen.
Die nationalliberale Partei wird, wie ich hoffe, durch die letzte Reichstagssession ihrer Scheidung in eine monarchische und eine fortschrittliche, also republikanische Hälfte entgegengeführt werden. Der Versuch des früheren Präsidenten v. Forckenbeck, die gesetzgebenden Gewalten des Reichs der directen Controlle eines deutschen Städtebundes zu unterwerfen, und die Brandreden an die Adresse der besitzlosen Classen von Lasker und Richter haben die revolutionäre Tendenz dieser Abgeordneten so klar und nackt hingestellt, daß für Anhänger der monarchischen Regierungsform keine politische Gemeinschaft mehr mit ihnen möglich ist. Der Plan des Städtebund[es] mit seinem ständigen Ausschuß am Sitze des Reichstages war der Berufung der „Föderirten“ aus den französischen Provinzialstädten im Jahre 1792 nachgebildet. Der Versuch fand im deutschen Volke keinen Anklang, zeigt aber, wie auch in unsern fortschrittlichen Abgeordneten das Material für Convents-Deputirte zu finden wäre. Die Vorarbeiter der Revolution recrutiren sich bei uns ziemlich ausschließlich aus dem gelehrten Proletariat, an welchem Norddeutschland reicher ist als der Süden. Es sind die studirten und hochgebildeten Herren, ohne Besitz, ohne Industrie, ohne Erwerb, welche entweder vom Gehalt im Staats- und Gemeindedienst, oder von der Presse, häufig von beiden leben, und welche im Reichstage erheblich mehr als die Hälfte der Abgeordneten stellen, während im wählenden Volke ihre Anzahl einen geringen Procentsatz nicht überschreitet. Diese Herren sind es, welche das revolutionäre Ferment liefern und die fortschrittliche und nationalliberale Fraction beherrschen und die Presse leiten. Die Sprengung ihrer Fraction ist nach meinem untertbänigsten Dafürhalten eine wesentliche Aufgabe der erhaltenden Politik, und die Reform der wirthschaftlichen Interessen bildet den Boden, auf welchem die Regierungen diesem Ziele mehr und mehr näher treten können.
Ew. M[ajestät]. danke ich ehrfurchtsvoll für Allerhöchstd[erselben]. huldreiche Wünsche bezügl. meiner hiesigen Cur, von welcher ich nach den bisherigen Eindrücken hoffen darf, daß sie ebenso wie in früheren Jahren die Schäden heilen werde, welche der Winter meiner Gesundheit zufügt. Einen wesentlichen Antheil an der guten Wirkung hat die Leichtigkeit, mit welcher Ew. M[ajestät]. Gnade mich in den Stand setzt, die gute Luft der umgebenden Wälder zu genießen. Die ausgezeichneten Pferde des Marstalls Ew. M[ajestät]. machen es leicht, jeden Punkt der schönen Umgebung Kissingens zu erreichen, eine Annehmlichkeit, für welche die mit den Jahren abnehmende Rüstigkeit zu Fuß doppelt empfänglich macht. Ew. M[ajestät]. wollen meinen Allerunterthänigsten Dank für diese Annehmlichkeit und für die Auszeichnung, welche für mich in ihrer Gewährung liegt, in Gnaden entgegennehmen.
In höchster Ehrfurcht verharre ich Ew. M[ajestät]. Allerunt[tänigster]. Diener