Brief von Herbert von Bismarck an Bernhard von Bülow, Kissingen, 15. Juni 1877

    Eurer Excellenz

    beehre ich mich beigehend den Petersburger Bericht Nr. 189 zurückzureichen und darauf bezügliches Diktat des Reichskanzlers ganz gehorsamst einzureichen. Fürst Bismarck bittet Eure Excellenz Herrn von Schweinitz im Sinne dieses Diktats, aber in einer Form, die ihn nicht verletze, schreiben zu wollen.

    Ich bitte gehorsamst, die flüchtige und unleserliche Schrift geneigtest damit entschuldigen zu wollen, daß der Reichskanzler bis kurz vor Postschluß diktirt hat, und deshalb die Zeit zum Mundiren [Verfassen einer Ausfertigung] fehlte.

    [Diktat]

    Ich wünsche daß wir, ohne es zu auffällig zu machen, doch die Engländer ermuthigen, wenn sie Absichten auf Egypten haben: ich halte es in unserem Interesse und für unsere Zukunft [für] eine nützliche Gestaltung, einen Ausgleich zwischen England und Rußland zu fördern, der ähnliche gute Beziehungen zwischen beiden, wie im Beginn dieses Jahrhunderts, und demnächst Freundschaft beider mit uns in Aussicht stellt. Ein solches Ziel bleibt vielleicht unerreicht, aber wissen kann man das auch nicht. Wenn England und Rußland auf der Basis, daß ersteres Egypten, letzteres das Schwarze Meer hat, einig würden, so wären beide in der Lage, auf lange Zeit mit Erhaltung des Status quo zufrieden zu sein, und doch wieder in ihren größten Interessen auf eine Rivalität angewiesen, die sie zur Theilnahme an Coalitionen gegen uns, abgesehn von den inneren Schwierigkeiten Englands für dergleichen, kaum fähig macht.

    Ein französisches Blatt sagte neulich von mir, ich hätte „le cauchemar des coalitions“ [Alptraum der Koalitionen]; diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange, und vielleicht immer, ein sehr berechtigter bleiben. Coalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Oesterreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-oesterreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der 3 letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Lauf der Jahre, würde ich als wünschenswerthe Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns ansehen: 1) Gravitirung der russischen und der oesterreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2) der Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen, und unseres Bündnisses zu bedürfen, 3) für England und Rußland ein befriedigender status quo, der ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben, 4) Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich wegen Egyptens und des Mittelmeers, 5) Beziehungen zwischen Rußland und Oesterreich, welche es beiden schwierig machen, die antideutsche Conspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu welcher centralistische oder clerikale Elemente in Oesterreich etwa geneigt sein möchten.

    Wenn ich arbeitsfähig wäre, könnte ich das Bild vervollständigen und feiner ausarbeiten, welches mir vorschwebt: nicht das irgendeines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Coalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zu einander nach Möglichkeit abgehalten werden.

    Die Occupation Egyptens würde nach Englands Ansicht nicht hinreichen, um die Schwierigkeit wegen der Dardanellen zu heben: das System des Doppelverschlusses mit den Dardanellen für England und den Bosporus für Rußland hat für England die Gefahr, daß seine Dardanellen-Befestigungen unter Umständen durch Landtruppen leichter genommen, als verteidigt werden können; das wird auch wohl die russische Mental-Reservation dabei sein, und für ein Menschenalter sind sie vielleicht mit dem Schluß des Schwarzen Meeres zufrieden. Diese Frage bleibt Sache der Verhandlungen, und das Gesamtergebniß, wie es mir vorschwebt, könnte sich ebenso gut nach, wie vor den entscheidenden Schlachten dieses Krieges ausbilden. Ich würde es für uns als ein so werthvolles ansehn, daß es die damit wahrscheinlich verbundene Schädigung unserer Pontus-Interessen überwiegen würde, abgesehen von der möglichen Sicherung der letzteren durch die Verträge. Auch wenn ein englisch-russischer Krieg sich nicht sollte verhüten lassen, würde meiner Meinung nach unser Ziel dasselbe bleiben, d. h. die Vermittlung eines beide auf Kosten der Türkei befriedigenden Friedens.

    Etwas besorgt hat mich der Passus in Schweinitz’ Bericht Nr. 189 gemacht, wo er auf Schuwaloffs „tout le monde contre nous“ [die ganze Welt gegen uns] geantwortet hat: „dahin wird es kommen“; er hätte antworten sollen: „wir niemals“. Der Tscherkasski’sche Nadjel ist ein Gespenst, an das der Botschafter aufhören muß zu glauben, wenn er nicht unsere Politik schädigen will; er leidet, wenn nicht an Gespenstern, doch an Weitsichtigkeit in dieser Beziehung, und an Doktrin. Wenn in dem slavischen Communismus auch größere Verrücktheiten stecken, als in dem unserer Socialisten, so haben wir weder die Aufgabe, noch die Macht dergleichen zu hindern: steckt es darin, so wird es durch ein anderes Ventil zur Erscheinung kommen, wenn ihm das Tscherkasski’sche genommen wird; es ist eine Überschätzung sowohl der Auswärtigen Mittel, wie auch der eigenen Vorherberechnung des Weltlaufs, wenn man die Bekämpfung des russischen Communismus als Aufgabe der deutschen Diplomatie ansehn will. Wenn die Russen den Brand entzünden, so werden sie selbst die ersten Löschbedürftigen sein, und ihre eigenen Finger die verbrannten: Auch für Oesterreich halte ich das Unglück nicht groß, wenn das Slaventhum sich in ein monarchisches und ein communistisches, einander bekämpfend, scheidet. Diese für die Nachbarn beruhigende Wirkung würde es noch kaum einmal haben, wenn beispielsweise die serbische Bauern-Verfassung an Stelle der jetzigen bosnischen oder bulgarischen Zustände trete, oder den rumänischen Bojaren in Nothwehr versetzte.

    Es ist ja möglich, daß Schweinitz mit seinem Nadjel-Gespenst ganz im Recht ist, beweisen kann ich das Gegentheil wenigstens nicht: so lange ich aber unsere Diplomatie zu leiten habe, werde ich ihm dankbar sein, wenn er diese Erwägungen und überhaupt alle Motive, die sich im russischen Interesse geltend machen lassen, den russischen Behörden überläßt und aus seinen diplomatischen Besprechungen fern hält.