Brief an Kaiser Wilhelm I., Berlin, 1. Januar 1872
Ew. Kais[erliche], und K[öni]gl[iche]. Majestät haben die Gnade gehabt, das Exposé des Kriegs-Ministers vom 16. December über die Frage der Bewaffnung der Armee mir durch den General von Trescow, welchem ich dasselbe bereits wieder zugestellt habe, mittheilen zu lassen. Indem ich für diese allergnädigste, für mich sehr werthvolle Mittheilung meinen ehrfurchtsvollsten Dank ausspreche, darf ich zugleich um die Erlaubniß bitten, Ew. Majestät die Bemerkungen allerunterthänigst vorzulegen, zu welchen die eingehende und lichtvolle Darstellung des Kriegsministers mir von einem speciellen, politischen Standpunkt aus Veranlassung bietet. Der Kriegsminister verwahrt sich, gewiß mit Recht, gegen die Annahme einer „vermeintlichen Werthveränderung“ der Armee; ich darf mich aber auch überzeugt halten, daß Ew. Majestät eine solche Annahme in meinem allerunterthänigsten Berichte nicht gefunden haben. Ich hege keinen Zweifel, daß der Kriegs-Minister in vollem Rechte ist, wenn er „die Deutsche Armee am heutigen Tage für eben so geeignet hält, jedem Gegner gegenüber mit Ehre zu bestehen, als sie dieses in den beiden letzten Jahren gegen Frankreich vermocht hat“. Aber ich muß bei meinen politischen Erwägungen auch die Möglichkeit in’s Auge fassen, daß Deutschland einmal nicht nur Einem Gegner, sondern mehreren sich gegenüber finden könnte, deren Coalition eine größere und gefährlichere Macht bilden würde, als Frankreich sie in letztem Kriege aufzustellen vermochte, oder allein jemals aufzustellen im Stande sein würde. Es ist die Aufgabe der Politik, solche Coalitionen zu verhindern; ob dies aber unter allen Umständen so glücklich gelingen wird, wie es im letzten Jahre während eines Kampfes von 9 monatlicher Dauer unter schwierigen Verhältnissen gelungen ist, das hängt nicht von uns allein ab; und es kann unter Umständen eine Lebensfrage für Deutschland werden, ob es auch einer solchen Combination gewachsen ist.
Was Frankreich betrifft, so glaube ich nicht, daß es in den nächsten Jahren ohne Bundesgenossen sich Deutschland gewachsen fühlen wird. Es ist nicht unmöglich, daß die Erhitzung der Gemüther, oder das Interesse einer einzelnen Parthei, welche durch eine populäre Aufwallung an das Ruder zu kommen hofft, zu einem Handstreich gegen uns führen könnte. Den Gedanken aber an einen großen Krieg glaube ich, so lange Frankreich allein steht, weder bei der jetzigen Regierung, noch bei den Führern oder Häuptern der großen Partheien voraussetzen zu sollen. Anders aber steht die Sache, wenn die politischen Conjuncturen sich unerwartet so gestalten sollten, daß Frankreich für einen Krieg gegen Deutschland Bundesgenossen zu finden hoffen dürfte. Einen günstigen Augenblick der Art würde Frankreich schwerlich vorüber gehen lassen, und als dann würden die Verhältnisse sich wesentlich anders gestalten als im letzten Kriege. Dann würde es darauf ankommen, ob Deutschland im gegebenen Moment sich der Aufgabe gewachsen fühlen würde, nach verschiedenen Seiten gleichzeitig Front zu machen.
Ew. Majestät wissen, daß im gegenwärtigen Augenblicke keine Besorgniß zu einer solchen Coalition vorliegt, und ich glaube, daß auch Allerhöchstdieselben mit vollem Vertrauen auf die befreundeten Staaten blicken. Aber auch Ew. Majestät Beurtheilung wird die Möglichkeit einer solchen Eventualität nicht ausschließen, und namentlich nicht verkennen, daß sich über den Zeitpunkt, in welchem sie eintreten könnte, nach der Wandelbarkeit menschlicher Einrichtungen mit Sicherheit nichts voraussagen läßt. Ich darf bei dieser Ungewißheit nicht verhehlen, daß mir der Zeitpunkt, welchen der Kriegs-Minister für die vollendete einheitliche Bewaffnung der gesammten Infanterie mit dem Ende des Jahres 1875 aufstellt, besorglich spät erscheint, und daß es mir im Interesse der politischen Combinationen wünschenswerth sein würde, wenn eine größere Beschleunigung erzielt werden könnte.
Wie weit dies vom technischen Standpunkt aus möglich, und durch welche Mittel es zu erzielen sein würde, darüber habe ich keine Meinung auszusprechen. Ew. Majestät werden die Motive würdigen, aus denen ich mich verpflichtet fühle, die vom politischen Standpunkt aus sich aufdrängenden Sorgen Allerhöchstdero Beachtung zu unterbreiten, und huldreichst erwägen, wie wichtig es für mich ist, bei der Behandlung politischer Fragen eine genaue und begründete Kenntniß des Zustandes der Wehrhaftigkeit des Heeres, und damit des Gewichts, welches Deutschland in die politische Wagschale im gegebenen Augenblick werfen kann, zu Grunde legen zu können.