Erlass an Karl von Werther, Berlin, 26. Februar 1869
Was Ew. pp. in Ihrem gefälligen Berichte vom 23. d. M. als eine Aufklärung gegenüber meinen Erlasse vom 18. bezeichnen, trifft nicht genau den Gedanken welchen dieser Erlaß zum Ausdruck bringen sollte. Es kam mir darauf an, nicht durch Vorlegung Ihrer Berichte zum Überbringer einer Kritik solcher Phasen der Politik Seiner Majestät des Königs gemacht zu werden, welche unwiderruflich der Vergangenheit angehören, wie es mit dem Friedensschlusse von 1866 ohne den Marsch nach München der Fall ist, den Ew. pp. in dem Berichte vom 14. d. M. zum Element einer Wahrscheinlichkeitsrechnung nahmen. Warum die Verlängerung des Krieges mit Bayern und der Marsch nach München auch im Sinne dieser Berechnung eine unzweckmäßige Maßregel gewesen sein würde, darauf will ich hier nicht eingehen, sondern mich begnügen, die Vermutung auszusprechen, daß, wenn Ew. pp. und die fürstlichen Personen, deren Unterhaltung Sie erwähnen, an der „Verdauungsarbeit“ Preußens beteiligt wären, Sie über diesen Punkt meine Meinung teilen würden.
Daß die deutsche Einheit durch gewaltsame Ereignisse gefördert werden würde, halte auch ich für wahrscheinlich. Aber eine ganz andere Frage ist der Beruf, eine gewaltsame Katastrophe herbeizuführen, und die Verantwortlichkeit für die Wahl des Zeitpunkts. Ein willkürliches, nur nach subjektiven Gründen bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung der Geschichte hat immer nur das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt; und daß die deutsche Einheit in diesem Augenblicke keine reife Frucht ist, fällt meines Erachtens in die Augen. Wenn in der Richtung auf dieselbe die kommende Zeit ebenso fortschreitet wie die seit dem Regierungsantritt Friedrich des Großen verflossene und namentlich wie die seit 1840, dem Jahre, wo zuerst seit den Befreiungskriegen wieder eine nationale Bewegung fühlbar wurde, so können wir der Zukunft mit Ruhe entgegensehen und unseren Nachkommen das Weitere zu tun überlassen. Hinter der wortreichen Unruhe, mit der Leute außerhalb der Geschäfte nach dem Stein der Weisen suchen, der sofort die deutsche Einheit herstellen könne, verbirgt sich in der Regel eine flache und jedenfalls impotente Unbekanntschaft mit den Realitäten und ihren Wirkungen.
Ich gebe Ew. pp. diese allgemeinen Betrachtungen gleichsam als eine Gegengift gegen den erklärlichen Einfluß der Verhältnisse, in deren Mitte Sie leben, und deren gegenwärtige Erscheinung den Gegenstand eines anderen Ew. pp. gleichzeitig zugehenden Erlasses bildet. Wir können die Uhren vorstellen, die Zeit geht aber deshalb nicht rascher, u[nd] die Fähigkeit zu warten, während die Verhältnisse sich entwickeln, ist eine Vorbedingung practischer Politik.