Erlass an Heinrich Alexander von Redern, Berlin, 17. April 1866
Ew. pp. übersende ich anliegend Abschrift einer Depesche, d. d. St. Petersburg, den 30. März / 11. April, worin der Fürst Gortschakow sich über den ersten Eindruck ausspricht, welchen die telegraphische Nachricht von unserem Antrage auf Reform der Bundesverfassung dem Kaiserlichen Hofe gemacht hat. Ich bin dankbar dafür, daß der Herr von Oubril dieselbe hat vertraulich in meinen Händen lassen dürfen, da mir dadurch die Möglichkeit zu Aufklärungen geboten ist.
Ich glaube zwar, daß die bald nachher bekannt gewordenen Motive, mit welchen die Einbringung des Antrages von dem Königlichen Bundestagsgesandten begründet worden ist, hinreichende Erläuterungen enthalten und geeignet sind, das Urteil des Kaiserlichen Hofes zu modifizieren. Aber bei dem großen Wert, welchen ich auf dieses Urteil lege, und dem dringenden Wunsche, von Seiner Majestät dem Kaiser nicht mißverstanden zu werden, halte ich es nicht für überflüssig, noch besonders und ausdrücklich zu versichern, wie ich in dem Rate, welchen Seiner Majestät dem Könige meinem allergnädigsten Herrn in dieser Beziehung zu erteilen ich für meine Pflicht gehalten, den konservativen Grundsätzen, die ich nie verleugnet habe noch verleugnen werde, im vollsten Sinne treu geblieben bin. Ich halte die vorgeschlagene Maßregel für die konservativen Interessen förderlich und notwendig; und ich glaube, daß man diesem Urteil auch in St. Petersburg beistimmen würde, wenn man dort sich vollständig in unsere deutschen und preußischen Verhältnisse hineinversetzen könnte und dieselben so genau kennte wie wir, die wir inmitten derselben leben. Daß aber Preußen das konservative Prinzip vertritt, beweist schon der Umstand, daß Österreich gerade unter den schärfsten Gegnern desselben seine Anhänger findet. In den neuesten Differenzen zwischen uns und dem Wiener Kabinett haben alle revolutionären Parteien in Deutschland und in Preußen selbst sich auf die Seite Österreichs gestellt; und wie wenig Österreich es verschmäht hat, bei diesen Tendenzen Bundesgenossenschaft und Unterstützung seiner Absichten gegen uns zu suchen, das zeigt die Begünstigung, welche es der demokratischen Partei in Holstein zuteil werden läßt.
Der Fürst Vizekanzler gibt nicht näher an, worin der revolutionäre Charakter dieses Vorschlages liegen soll. In der Maßregel einer Reform der Bundesverfassung überhaupt kann das nicht sein, da das Bedürfnis dazu von keiner Seite in Zweifel gezogen wird. Soll er etwa in der Anwendung parlamentarischer Institutionen auf die Bundesverfassung liegen? Man kann über den Wert solcher Institutionen verschiedener Meinung sein, beseitigen aber lassen sie sich in jetziger Zeit aus dem öffentlichen Leben Deutschlands schwerlich. Sie sind eben einer der Faktoren, mit welchen ein praktischer Staatsmann rechnen oder sich abfinden muß, indem er sich nur zur Aufgabe machen kann, ihre Auswüchse zu verhindern. Auch wird sich niemand, der die deutschen Verhältnisse praktisch mit durchlebt, verhehlen können, daß eine nicht geringe Anzahl wirklicher, auch von allen Conservativen empfundener Bedürfnisse vorhanden sind, durch deren Befriedigung die Regirungen der Revolution die Vorwände entziehn, welche ihr auch bei besser Gesinnten Eingang schaffen. Auf Einigung der Regirungen darüber ohne die Mitwirkung einer Vertretung der Nation ist aber nicht zu hoffen.
Wenn aber besonders die Bestimmung direkter Wahlen und des allgemeinen Stimmrechts die Besorgnisse Seiner Majestät des Kaisers erweckt haben sollte, so darf ich es wohl als eine auf langer Erfahrung begründete Überzeugung aussprechen, daß das künstliche System indirekter und Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der höchsten Gewalt mit den gesunden Elementen, welche den Kern und die Masse des Volkes bilden, verhindert. In einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allg[emeine] Stimmrecht, indem es die Einflüsse der liberalen Bourgeoisie-Klassen beseitigt, auch zu monarchischen Wahlen führen, ebenso wie in Ländern, wo die Massen revolutionär fühlen, zu anarchischen. In Preußen aber sind 9/10 des Volkes dem Könige treu ergeben u[nd] nur durch den künstlichen Mechanismus der Wahl um den Ausdruck ihrer Meinung gebracht. Die Träger der Revolution sind die „Wahlmänner-Collegien“, welche der Arbeit der Umsturzparthei ein über das Land verbreitetes u[nd] leicht zu handhabendes Netz gewähren. Der F[ürst] G[ortschakow] wird sich erinnern, daß diese es waren, welche 1789 unter dem Namen „les communes“ die Revolution in die Hand nehmen. Ich stehe nicht an, die indirecten Wahlen für eins der wesentlichsten Hülfsmittel der Revolution zu erklären, u[nd] ich glaube, in diesen Dingen practisch einige Erfahrung gesammelt zu haben.
Da ich die Mittheilung des Herrn von Oubril der Natur der Sache nach nur als eine ganz konfidentielle anzusehen habe, so ersuche ich Ew. pp. ergebenst, diese Erwägungen zunächst im Gespräch mit dem Fürsten Vizekanzler zu verwerten. Doch habe ich kein Bedenken dagegen, daß Sie demselben diese Depesche vertraulich in den Händen lassen, um ihn in den Stand zu setzen, Seiner Majestät dem Kaiser die Gewißheit zu geben, daß die Regierung Seiner Majestät des Königs unseres allergnädigsten Herrn weit davon entfern ist, den konservativen Prinzipien untreu zu werden und die Bahn revolutionärer Tendenzen zu betreten.