Brief an Leopold von Gerlach, Berlin, 2./4. Mai 1860
[Briefanfang nicht erhalten] … jeder Lüge über mich geglaubt, sie nachgesprochen und ohne eine Frage der Aufklärung an mich zu richten, eine kühle Haltung gegen mich angenommen haben. Ich habe die Erfahrung in den früher intimsten Kreisen gemacht. Es liegt in unserm Volkscharacter, und je höher hinauf, desto mehr, vom nächsten Freunde bereitwillig Böses zu glauben und dann sein Mißtrauen gegen ihn selbst nicht auszusprechen: wohl aber gegen andre Freunde. Man muß auch damit zu leben lernen, so lange es Gott gefällt. „Eines Mannes Rede keine Rede, billig hört man beede“ steht seit bald 500 Jahren am Tangermünder Schloß, scheint aber nur Altmärkisches Provinzial-Recht zu sein. Der Vorwurf gilt Ihnen nicht, denn ich weiß nicht, wie weit Sie glauben, was „man gesagt hat“ und jedenfalls sprechen Sie Sich mit mir aus.
Bei dieser Aussprache wird in Betreff dessen, was wir jetzt zu thun haben, gar kein, aber in den Prinzipien doch ein erhebliches Residuum von Meinungsverschiedenheit verbleiben. Sie wollen grundsätzlich mit Bonaparte und Cavour nichts zu thun haben; ich will nicht mit Frankreich oder Sardinien gehen, nicht, weil ich es für Unrecht hielte, sondern, weil ich es im Interesse unsrer Sicherheit für bedenklich halte. Wer in Frankreich oder Sardinien herrscht, ist mir dabei, nachdem die Gewalten einmal anerkannt sind, ganz gleichgültig, und nur eine thatsächliche, keine rechtliche Grundlage. Mit meinem eignen Lehnsherrn stehe ich und falle ich, auch wenn er meines Erachtens sich thöricht zu Grunde richtete, aber Frankreich bleibt für mich Frankreich, mag Louis Nap[oleon] oder Ludwig der Heilige dort regiren, und Oestreich bleibt mir Ausland, ich mag es bei Hochkirch oder vor Paris ins Auge fassen.
Für den politischen Calcul sind natürlich diese thatsächlichen Unterschiede sehr gewichtig, für mein Gewissen, für den Rechtspunkt haben sie mir keine Bedeutung, ich fühle keine Verantwortlichkeit für auswärtige Zustände in mir. Ich weiß, daß Sie mir darauf antworten, es sei das nicht auseinanderzuhalten, und wohlverstandne Preußische Politik erfordre auch aus Zweckmäßigkeitsrücksicht Keuschheit in auswärtigen Beziehungen. Vom Standpunkte der politischen Nützlichkeit läßt sich hierüber discutiren; wie Sie aber den Unterschied stellen zwischen Recht und Revolution, Christenthum und Unglauben, Gott und Teufel, so kann ich nicht mit Ihnen discutiren, sondern einfach sagen, ich bin nicht Ihrer Meinung, und Sie richten in mir, was nicht Ihres Gerichts ist. Ich habe weder den Königlichen Dienst noch eigne Ehre in demselben, letztres wenigstens nicht vorbedachter Weise, gesucht, und der Gott, der mich unerwartet hineingesetzt hat, wird mir auch lieber den Weg hinauszeigen, als meine Seele darin verderben lassen, so lange ich ehrlich suche, was Seines Dienstes in meinem Amte ist, und gehe ich fehl, so wird er mein tägliches Gebet hören und mein Herz wenden oder mir Freunde schicken, die das vermögen. Ich müßte die Dauer und den Werth dieses Lebens sonderbar überschätzen, nachdem ich vor 6 Monaten nicht glaubte, noch einmal grünen Rasen „von oben“ ansehn zu können, wenn ich mir nicht gegenwärtig halten wollte, daß es nach 30 Jahren, und vielleicht sehr viel früher, ohne alle Bedeutung für mich ist, welche politische Erfolge ich oder mein Vaterland in Europa erreicht haben. Ich kann sogar den Gedanken, daß Rechberg und andre „ungläubige Jesuiten“ über die Altsächsische Mark Salzwedel mit Römisch-Slavischem Bonapartismus und blühender Corruption absolut herrschen sollten, ohne Zorn ausdenken und eventuell als Gottes Willen und Zulassung ehren, weil ich meinen Blick über diese Dinge hinwegrichte.
Ich bin ein Kind andrer Zeiten als Sie, aber ein ebenso ehrliches der meinigen, wie Sie der Ihrigen. Mir scheint, daß niemand den Stempel wieder verliert, den ihm die Zeit der Jugendeindrücke aufprägt; in dem Ihrigen steht der siegreiche Haß gegen Bonaparte unauslöschlich, Sie nennen ihn „incarnirte Revolution“, und wenn Sie etwas Schlimmeres wüßten, so würden Sie ihn auch danach taufen. Ich habe vom 23. bis 32. Jahr auf dem Lande gelebt und werde die Sehnsucht, dahin zurückzukehren, nie aus den Adern los, nur mit halbem Herzen bin ich bei der Politik; was ich aber an Abneigung gegen Frankreich im Leibe habe, das verkörpert sich mir viel mehr in Orleanistischen als in Bonapartistischen Bildern, mehr in bureaukratischer Corruption unter constitutioneller Decke als in Napoleonischer Unterdrückung im Mantel gleißnerischer Phrase. Gegen letztre schlage ich mich gern, daß die Hunde das Blut lecken, aber mit nicht mehr Bosheit, als gegen Croaten, Böhmen, jesuitische Beichtväter und Bamberger „Landsleute“.
Um aber zu Realitäten zurückzukehren, zur Gegenwart, so wäre mir Frankreich von allen Bundesgenossen der bedenklichste, obschon ich mir die Möglichkeit offen halten muß, weil man nicht Schach spielen kann, wenn einem 16 Felder von 64 von Hause aus verboten sind, und weil wir mit den andern Cabinetten nicht auskommen können, wenn wir, mit dem Gewicht unvermeidlichen Krieges gegen Frankreich belastet, in ihre Gemeinschaft treten wollen. Den Moment, wo man Sardinien gegen Frankreich den Rücken hätte stärken können, halte ich für vergangen oder zukünftig und wegen heimischer Personal-Verhältnisse für entfernt; ich halte es aber nicht für unerlaubt. In Kurhessen finde ich die Partei des Kurfürsten nicht um ein Haar besser, wie die Gegner, und halte es für einen mißverstandnen Conservatismus, das Recht von 1831 in seiner Continuität fallen zu lassen, weil uns sein Inhalt mißliebig ist, und weil die fürstliche Autorität auf der entgegengesetzten Seite steht. Im Auslande wie im Inlande sehe ich in zweifelhaften Fällen mit den Augen meiner Standesgenossen, der Ritterschaft, und die ist nicht auf Hassenpflugs Seite, wenn sie auch den Inhalt der 52er Verfassung großentheils dem der 31er vorzieht.
3. Mai. Ich glaube, Sie überschätzen den jetzigen Napoleon, weil sie ihn zu sehr mit dem alten identificiren, dessen gewaltige Erscheinung die Staaten-Entwicklung, wie sie bis 1800 war, aus ihren Bahnen gestoßen hat und natürliche Gegner zu Noth-Bundesgenossen machte. Die Noth wird nur von den übrigen Cabinetten jetzt nicht in dem Maße gefühlt, wir vor 50 Jahren; bei uns aber, weil der Fall tiefer, die Erhebung davon kräftiger war, als bei den Andern, vibriren die damaligen Gefühle länger nach. Ich spreche dem Haß unter dem eisernen Kreuz seine Berechtigung auch gegen diesen Bonaparte nicht ab, sobald ich diesen Haß nur für frei von Furcht erkenne, und das ist er in den offiziellen Kreisen nicht, weil diesen Kreisen der Gedanke, mit Ehren unterzugehn, unerträglich ist, sie glauben nicht an Auferstehung, weder hier noch dort. Diesem feigen Haß trete ich entgegen, wie ich kann, und schimpft man mich dafür Bonapartist, so lasse ich mirs gefallen. Ich fühle mich frei von dem Laster der love of approbation. Die Coalitions-Bettelei und die Hoffnung, durch Darmstadt gerettet zu werden, sind die augenblicklichen Staatskrankheiten, und es ist leichter, schwache ängstliche Bestrebungen zu schelten, als mit Erfolg zu kuriren.
Freitag [4. Mai]: Ueber Grundsteuer und Socialismus (im Salon) habe ich versäumt, diese Blätter abzuschicken, breche aber den Erguß ab, da das vielseitige Thema in einem Brief sich nicht erschöpfen läßt. Nur das noch: Das Schweigen von Schleinitz gegen die Excesse der Redner mißbillige ich ebenso wie Sie; es war eine gute Gelegenheit für die Regirung, die Deutschen Fürsten über das Maß unsrer Bundesreform-Wünsche zu beruhigen und ihnen zu sagen; daß wir ihre Rechte gleich unsern eignen schützen würden, und nur legale Reform (B[undes]Militär) erstreben, daran aber unverrückt festhalten. Goltz zu citiren, habe ich vergebens versucht; er ist mein Minister-Candidat, hat leider im vorigen Sommer hier unvorsichtig und zu ungeduldig operirt. Er mußte Gruners Stelle behalten. Bernstorff ist mir zu einseitig aufgeregt: zu viel Empfindlichkeiten, ungelenkig, zu steife Vatermörder. Auch reicht mein Einfluß nicht zu solchen Citationen; Goltz säh ich sonst gern hier. Ich habe erdrückendes Heimweh nach Petersburg und eignem Hause, ich halte es hier nicht länger aus und fühle mich vollständig überflüssig und erfolglos, verdächtig als Minister-Candidat, in der geschmacklosen Situation eines Gesandten im Gasthof mit Hinterthür-Intriguen gegen seinen Chef.
Stets treu der Ihrige
v. Bismarck