Brief an Leopold von Gerlach, Frankfurt, 19./20. Dezember 1853
Verehrtester Freund,
einige Stunden nach Absendung meines gestrigen Briefes traf der Ihrige vom 14. c. über Cöln hier ein, und ich beeile mich [zu] jenem einige Nachträge zu liefern und meine Bairischen Prädilectionen näher zu erläutern. Ich habe keine Vorliebe für das heutige offizielle Baiern, das Bier ausgenommen, auch kein Vertrauen zu den Machthabern; aber ich glaube, es ist die Aufgabe Preußischer Politik, grade Baiern zu gewinnen. Es liegt geographisch so, daß König Max nicht schon aus einem Blick auf die Landkarte Mißtrauen gegen uns zu saugen braucht, und es ist, wenn wir mit Oestreich einig sind, ein nützlicher, wenn wir es nicht sind, ein wichtiger Bundesgenosse für uns. Seine Verbindung mit Oestreich gegen uns ist höchst unnatürlich, trotz der etwaigen gemeinsamen Gelüste gegen Baden, bei denen, wenn sie jemals ausführbar werden, Baiern doch die dupe der societas leonina würde.
Ich räume ein, daß die politische Angemessenheit der Verbindung mit Baiern für uns ein starkes Gegengewicht an der Beschaffenheit der in München maßgebenden Personen findet, aber ich würde darüber mein Ziel doch nicht gern aus den Augen verlieren und mich namentlich hüten, es durch verfrühte Kundgebung von Mißtrauen zu entfernen. Unsre eigne Lage kann leicht sehr unbehaglich werden, wenn eine Annäherung zwischen Rußland und Frankreich stattfindet, was für den Kaiser von R[ußland] allerdings der natürlichste Ausweg sein würde, wenn wir ihm die Hölle zu heiß machen.
Oestreich bietet gegen diese beiden Gegner so faule und wunde Flanken, in Italien und Ungarn, daß es ein sehr schwacher Bundesgenosse für uns sein, sich dadurch aber nicht würde abhalten lassen, uns noch auf dem Sterbebette übers Ohr hauen zu wollen, wenn es nicht vorzieht, offen über uns herzufallen. Thun hat aus der Schwarzenbergschen Erbschaft einen vernunftlosen Haß gegen England überkommen; Prokesch ist nicht anders, und wenn in Wien dieß Gefühl in demselben Grade herrscht, so zweifle ich nicht, daß man Frankreich große Concessionen machen würde, um jenem Haß zu genügen, besonders, wenn man uns dabei gleichzeitig die Beine zerschlagen kann.
Solchen Möglichkeiten gegenüber, die auch Sie zuzugeben scheinen, sollten wir uns doch auch nach Bundesgenossen umsehn und namentlich Rußland nicht erkälten. Es ist für uns der wohlfeilste unter den Continentalen, da es nur im Orient zu wachsen verlangt, die beiden andern aber direct auf unsre Kosten. England allein kann uns zu Lande nicht gegen Uebermacht schützen. Oestreich bedarf zur Durchführung seiner innern germanisirenden Centralisations-Politik der Belebung seiner Beziehungen zu Deutschland, d. h. auf Wienerisch: einer straffen Hegemonie über den Bund; dabei sind wir ihm im Wege, wir mögen uns an die Wand drücken, wie wir wollen, ein Deutsches Preußen von 17 Millionen bleibt immer zu dick, um Oestreich so viel Spielraum zu lassen, als es erstrebt.
Unsre Politik hat keinen andern Exercierplatz als Deutschland, schon unsrer geographischen Verwachsenheit wegen, und grade diesen glaubt Oestreich dringend auch für sich zu gebrauchen; für beide ist kein Platz nach den Ansprüchen, die Oe[streich] macht, also können wir uns auf die Dauer nicht vertragen. Wir athmen einer dem andern die Luft vor dem Munde fort, einer muß weichen oder vom andern „gewichen werden“, bis dahin müssen wir Gegner sein, das halte ich für eine unignorirbare (verzeihn Sie das Wort) Thatsache, wie unwillkommen sie auch sein mag. Ein Bündniß mit Frankreich können wir nicht ohne einen gewissen Grad von Gemeinheit eingehn. Bringen wir aber Rußland dahin, es zu thun, so kann uns die verkehrte Wiener Politik doch nöthigen, in diesem scheußlichen Bunde der Dritte zu sein, ehe es Oestreich wird.
Sehr achtbare Leute, sogar mittelalterliche Fürsten, haben sich schon lieber durch eine Kloake gerettet, als daß sie sich prügeln oder abwürgen ließen. Im Anfang der Orientalischen Wirren schienen viele Deutsche Staaten, insbesondre Baden, Darmstadt, Hanover, es zu wünschen, daß, für den Fall einer Betheiligung Oestreichs am Kriege, Preußen mit den übrigen Bundesstaaten eine bewaffnete Neutralität bilde und sie und sich vor dem Kriegselend schütze. Ich habe das damals auch nach Berlin geschrieben; ob es ausführbar war oder noch ist, konnte nur der Versuch lehren. Das Interesse der mittlern und kleinen Deutschen Staaten, die im Kriege nur Ambos, nicht Hammer werden können, sollte sie eigentlich dahin führen, eine Garantie ihrer Ruhe und ihrer Existenz im Anschluß an uns zu suchen; ebenso das von Schweden, Dänemark und Holland; aber es ist keiner so klein, er hofft doch zu profitiren, wenn es darunter und darüber geht. Was Beust für Sachsen versucht, müssen wir stören, natürlich, aber m. E. ihm nachahmen; soweit es angeht, ohne uns unnöthig zu avanciren und zu compromittiren, namentlich gegen Rußland.
Mit den Coalitions-Cabinetten, besonders mit beiden Hessen, wird freilich nicht viel zu machen sein, doch sind sie alle der Furcht zugänglich, wir könnten uns mit Frankreich verbinden und in Deutschland schlimmsten Falls Entschädigung für unsre Opfer suchen. Wenn ich eine derartige Politik auch unter dem gedachten Kloakengesichtspunkt auffasse, so ist doch die Furcht jener davor immer eine Hülfe bei Unterhandlungen und wirkt bei den Coalitionsstaaten viel mehr als alle Berufungen an ihre Deutschen Gesinnungen. Ich wüßte nichts, was besser geeignet [wäre], die Rheinbundspolitik zu hindern, als der Gedanke, Preußen könne durch sie dahin gebracht werden, einmal zu Frankreich zu sagen: „was Deine Baiern können, das kann auch Carl, und Carl kann mehr.“
Der kurze Sinn, den ich mit allen diesen Expectorationen verbinde, ist der: wir müssen uns weder in eignen noch durch fremde Phrasen über „Deutsche Politik“ fangen lassen, die gelten doch nur gegen, niemals für uns, sondern dreist eine specifisch Preußische Politik affichiren, die ihre Geltung durch die Interessen und Befürchtungen andrer sucht, nicht durch Gefühle, die jeder vorgiebt und keiner hat, uns aber auch nicht wundern, wenn andre, statt unser, diesen Weg gehn, wie der Stänker Beust. Hier hört man übrigens bisher garnichts von den Münchner Umtrieben, die Artikel und Noten darüber erregen auch bisher keine besondre Aufmerksamkeit. Das einzige, was ich damit in Verbindung bringen könnte, ist eine gelegentliche Aeußerung von dem sonst sehr vorsichtigen Nostitz, der die Function eines sächsischen Gesandten mit denen eines Legationsrathes von Prokesch practisch combinirt. Er hat zu einem andern Collegen gesagt: „Glauben Sie denn, daß wir (der Bundestag) übers Jahr noch hier sein werden? Wenn die Haltung Preußens so beibleibt, ist das doch kaum wahrscheinlich.“
Außerdem fällt es mir auf, daß alle Gesandte der Coalition seit einigen Wochen ganz übertrieben liebenswürdig gegen mich sind, als hätten sie eine Verabredung darüber. Dalwigk sah ich gestern auf einem diner bei seinem B[undes]-Gesandten Münch. Mit heuchlerischer Herzlichkeit schilderte er mir seinen Schmerz über unsre Beziehungen, d. h. deren Mangel, und über den Verlust von Canitz! Er meinte, wenn Preußen ein wirklich conservatives Ministerium bekäme, von Männern, wie ich, so würden ihm alle Deutschen Regirungen zufallen; er scheint sich also Manteuffels Sturz ebenso vorgenommen zu haben, wie wir uns den seinigen. Er klagte, daß unsre Politik nicht „Deutsch“ genug wäre. „Deutsch“ heißt bei ihm natürlich Ergebung an die Coalition und deren bürokratisch-absolutistische Tendenzen in Verfassungssachen. Offenbar drückt ihn die Spannung mit uns, wenn auch die Gerüchte über seinen Abgang wieder nachlassen; er hielt mich fast zwei Stunden am Knopfloch und bewies mir die Wichtigkeit Hessens für Preußen. Zwischen Baiern und Hessen scheint einige Verstimmung obzuwalten, doch kann ich den Ursachen nicht auf den Grund kommen. Wenn Sie übrigens meinen, daß man hier etwas erfahren könne, so irren Sie; geklatscht wird hier genug, aber die Leute wissen leider nichts Erhebliches, weil sie, außer Prokesch, zu Hause keine Bedeutung haben; sie erfahren oft die wichtigsten Dinge aus ihrer Heimath erst durch mich oder Prokesch.
In Carlsruh hat, wie Sie wohl schon wissen, ein Vorfall stattgefunden, den Herr v. Rüdt wie folgt beschreibt: Der Regent sitzt am Abend an seinem Schreibtisch, hört im Nebenzimmer leise gehn und glaubt, es sei ein Lakai, bis sich die Thür plötzlich öffnet und ein übel aussehender Mensch hereintritt. Se. Kgl. Hoheit springt sofort in ein Neben-Cabinet, kommt von dort mit einem Degen zurück, worauf der Eindringling die Flucht ergreift und durch 2 schon vorher zur Sicherung der Flucht geöffnet gewesne Fenster auf einen Vorplatz und dann eine Freitreppe entkommt und von dort verschwindet, ohne daß auf dem Schnee im Garten Spuren zu finden gewesen sind, also in das Palais, und von da vermuthlich weiter. Unter den obwaltenden Umständen sagen nun die Katholiken, es sei natürlich ein Dieb, die Evangelischen, es sei ein fanatisirter Ravaillac gewesen; im letztem Falle hat er sich offenbar nicht mit der für sein Gewerbe nöthigen Entschlossenheit benommen.
Heut haben wir 4 Stunden Ausschuß-Sitzung über Lippesche Verfassung gehabt. Der Rathgeber des Fürsten, Staatsrath Fischer, hat durch seine tactlosen Grobheiten gegen hohen Bundestag unsre Perrücken so in Harnisch gebracht, daß ich nur mit Mühe Se. Durchlaucht vor den blamirendsten Beschlüssen geschützt habe, um Zeit für vermittelnde Unterhandlungen durch Schulenburg zu gewinnen. Die †-Zeitung muß durch irgendeine achtbare Befangenheit im Lippeschen Pastorat irre geführt sein, daß sie so scharf für die liberale Bürokratie, die den Kern der dortigen Opposition bildet, Partei nimmt.
Unsre Gesellschaft ist durch Damenkriege präoccupirt. Frau v. Vrints hat sich zur Aufgabe gemacht, eine Lady Rollington einzuführen, diese säuft und leidet an Ausschlag, die Bairische Gesandtin wollte sie deßhalb, mit Recht, nicht einladen, darüber hat ihr die Vrints Sottisen bis zu Thränen und Krämpfen gesagt, das haben die andern Gesandtinnen übel genommen, und nun spielen wir Montechi und Capuletti; darüber vergißt man seit 14 Tagen Coalition und Orient, und Sinope [Schlacht zwischen Türken und Russen] ist spurlos an uns vorübergegangen.
Leben Sie wohl für heut, empfehlen Sie mich Ihren Damen.
In alter Treue der Ihrige
v. Bismarck.
Was muß ich thun, um als Johanniter Beiträge zahlen zu dürfen, danach frage ich seit Monaten Pontius und Pilatus, und niemand will es mir sagen.