Brief an Gustav Scharlach, Berlin, 14. November 1833

     

    Lieber Giesecke

    Willst Du diesen Brief in derselben Stimmung lesen, in welcher er geschrieben ist, so trinke erst 1 Fl. Madera. Ich würde mich wegen meines langen Stillschweigens entschuldigen, wenn Dir nicht meine angeborne Tintenscheu bekannt wäre, und wenn Du nicht wüßtest, daß ich in Göttingen lieber 2 Fl. Rheinwein trank, als einen Brief schrieb, und daß ich beim Anblick einer Feder Convulsionen bekam. Wie schlecht es mir in der letzten Zeit gegangen ist, hast Du wohl gehört; ich habe auf der Reise noch in Braunschweig, Magdeburg, Schönhausen und Brandenburg 3-4 Wochen am Fiber gelegen. Später fanden sehr unangenehme Scenen zwischen mir und meinem Alten [statt], der sich weigert, meine Schulden zu bezahlen; dieß versetzt mich in eine etwas menschenfeindliche Stimmung, ungefähr wie Charles Mo[or], als er Räuber wird; doch tröste ich mich, wie jener Straßenjunge: „et is meenen Vater schont recht, det ik friere, worum koft er mir keene Hanschen.“

    Der Mangel ist so arg noch nicht, weil ich ungeheuern Credit habe, welches mir Gelegenheit giebt, liederlich zu leben; die Folge davon ist, daß ich blaß und krank aussehe, welches mein Alter, wenn ich Weihnachten nach Haus komme, natürlich meinem Mangel an Subsistenzmitteln zuschreiben wird; dann werde ich kräftig auftreten, ihm sagen, daß ich lieber Mohammedaner werden, als länger Hunger leiden wolle, und so wird sich die Sache schon machen. En attendant lebe ich hier wie ein gentleman, gewöhne mir ein geziertes Wesen an, spreche viel französisch, bringe den größten Theil meiner Zeit mit Anziehen, den übrigen mit Visitenmachen und bei meiner alten Freundin der Flasche zu; des Abends betrage ich mich im ersten Range der Oper so flegelhaft als möglich. Du würdest erstaunen, wenn Du jetzt einmal Gelegenheit hättest, meine Garderobe zu sehen – ein Haufen von Manchetten, Halsbinden, Unterhosen und andern Luxusartikeln.

    Dabei langweile ich mich mit leidlichem Anstande. Doch ein Übel quält mich; der Knabe Peter fängt an mir fürchterlich zu werden; stehe ich auf, so ist er da, komme ich von Tisch, so ist er wieder da, er folgt mir wie ein Schatten an Orte, wo er nichts zu thun hat, zu Leuten, die er gar nicht kennt, mit seinem versteinerten Frühlingslächeln, mit seiner gigantischen Mantellippe, an der einst die Blicke von 1000 Wisbegierigen hängen werden, wenn die Weisheit in 7 verschollenen Sprachen davon fließt, wie jetzt der Speichel in 7 Kanälen. Schiller hat Unrecht, wenn er die Schuld das größte Übel nennt, Peter ist viel fürchterlicher; lieber von allen Furien verfolgt als von diesem ewigen Gesicht; von diesem Peter, zu dem der Apostel Paulus sprach: Sei dumm wie die Ochsen und ohne Falsch wie die Tauben. Motley lebt wieder in offener Feindschaft mit King; mit jedem Paketboot kreuzen sich Forderungen auf Doppelbüchsen. Aus Göttingen ist noch hier: Bierbaum, Löhning u. Genossen, das Faulthier Schack und der schlanke Freiheitsbaum der Aristokratie, dem zum Menschen alles, zum Kammerherrn nichts fehlt, als ein Schloß vor’s Maul. Er lebt hier in seeliger Gemeinschaft mit 30 Vettern, denen er allen nichts vorzuwerfen hat, und von deren Beisammensein eine polizeiwidrige Anhäufung von Dummheit die einzige Folge ist; „sie essen nicht, sie trinken nicht“, was thun sie denn? Sie zählen ihre Ahnen.

    Bei dem Artikel von Dummheit fällt mir ein, daß meine Alte ganz ernstlich darauf dringt, ich solle noch einmal zum Prediger gehen, weil ich sagte, manches in der Bibel sei bildlich gemeint. Meine Adresse ist bis zum 15. Decbr. Kronenstraße 44, von da bis zum 10. Jan. Kniephoff bei Naugard in Pommern, später beim Pedell zu erfragen. Ich hoffe Du kannst Dir von Deinem Staatsdienste nächstens Zeit zu einer Antwort abmüßigen, nimm kein Beispiel an meiner Faulheit. Übrigens lebe fidel, grüße alles, was Du siehst und schreibe bald an Deinen treuen Freund und Bruder

    O. v. Bismarck