Gespräch mit dem Vizekönig Li Hongzhang, Friedrichsruh

    25. Juni 1896

     

    Bismarck betont, dass er sich nicht mehr um politische Geschäfte kümmere. Ihn interessierten nur noch die Felder und der Wald. Damit sei er wieder bei seinen Anfängen, denn ursprünglich habe er Landwirt werden wollen und nicht Politiker. Aus seiner Erfahrung als Letzterer sei eine schlagkräftige Armee, auch wenn sie noch so klein sei, der Garant für die Autorität einer Regierung.

    Der Vizekönig Li-Hung-Tschang kam mit seinem Gefolge zwölf Minuten vor ein Uhr hier an. Zu seinem Empfang hatten sich kurz vor Einlaufen des Zuges Graf Herbert Bismarck und Graf Rantzau eingefunden. Die beiden Grafen führten die Gäste ins Schloß, woselbst Fürst Bismarck den Eintretenden entgegenschritt. Er trug die Interimsuniform seiner Halberstädter Kürassiere mit dem Großkreuz des Roten Adlerordens mit Krone, Szepter und Schwert, welches bekanntlich ein Unikum ist. Kaiser Wilhelm I. hatte es sich und seinem Kanzler verliehen, und dieser trägt es jetzt immer bei besonders feierlichen Gelegenheiten. Außerdem war die Uniform nur mit dem Stern des Schwarzen Adlers und mit dem Eisernen Kreuz geschmückt. Li-Hung-Tschang verbeugte sich tief, als er des Fürsten Bismarck ansichtig wurde, und dieser erwiderte die Verbeugung, drückte seinem Gaste herzlich die Hand und sagte: „Ich fühle mich hochgeehrt, daß der Vizekönig mir seinen Besuch abstattet; es ist mir eine große Freude, den berühmtesten und größten Staatsmann Ihres Landes hier zu sehen.“

    Zunächst verweilten Fürst Bismarck und der Vizekönig längere Zeit mit dem Dolmetscher im Empfangsraum. Des Vizekönigs Blicke hingen mit offen zur Schau getragener Bewunderung an dem Fürsten, und er äußerte nach einiger Zeit: „Seitdem ich das Auge Eurer Durchlaucht gesehen habe, kommt mir Ihre Größe voll zum Bewußtsein, obwohl mir bekannt war, daß ich heute den größten Mann sehen würde, der die größten Erfolge errungen hat.“ Fürst Bismarck erwiderte, er freue sich, im Vizekönig einen Zeitgenossen zu begrüßen, der ebenfalls große Erfolge zu verzeichnen hätte. „Aber bei weitem nicht so bedeutende wie Euer Durchlaucht,“ fiel Li-Hung-Tschang ein. „Nun, jeder tut seine Schuldigkeit,“ meinte der Fürst. „Im Lande wohl,“ entgegnete der Vizekönig; „aber die Erfolge, die Euer Durchlaucht errungen haben, sind nicht nur dem eigenen Lande, sie sind für die ganze Welt errungen.“

    Bald darauf wurde zum Frühstück eingeladen. Es machte dem Fürsten Bismarck einige Schwierigkeit, sich von dem niedrigen Fauteuil, auf dem er gesessen hatte, zu erheben, so daß er laut bemerkte: „Man merkt, daß man alt wird,“ aber ein Ruck, und der Fürst stand aufrecht da, wie man ihn immer zu sehen gewohnt ist. Fürst Bismarck macht überhaupt einen ganz vortrefflichen Eindruck. Die Haltung ist gerade und stolz wie je, und das Auge blitzt auch heute noch in voller Jugendfrische. Die chinesischen Diener näherten sich, um in gewohnter Weise ihren Herrn zu führen; aber Fürst Bismarck trat dazwischen und bot seinem Gaste den Arm, um ihn selbst in den Speisesaal zu führen. Hier nahm der Fürst zwischen dem Vizekönig und dem Botschaftssekretär Lo-Feng-Luh Platz.

    Der Vizekönig erklärte dem Fürsten, schon seit dreißig Jahren, wo er nach dem österreichischen Kriege zuerst von ihm gehört habe, sei es sein Wunsch gewesen, ihn zu sehen; der heutige Tag endlich habe die Erfüllung dieses Wunsches gebracht. Er habe schon viele Bilder des Fürsten gesehen und habe große Erwartung gehegt; aber kein Bild erreiche die Wirklichkeit. Fürst Bismarck versuchte den Ausdruck der ihm gezollten Bewunderung abzulehnen, indem er meinte: „Ich bin nicht mehr wie früher; ich werde alt.“ Der Vizekönig fragte darauf, womit sich der Fürst beschäftige. „Mit nichts,“ antwortete dieser lächelnd. „Ich kümmere mich um nichts mehr, um mich nicht zu ärgern. Ich habe keine Verpflichtung mehr zu arbeiten und freue mich über den Wald und die Felder jetzt im Sommer. Ich bin von Haus aus Landwirt und wollte gar kein Politiker werden.“

    Der Vizekönig erkundigte sich darauf nach dem Grafen Herbert Bismarck, über dessen vieljährige Führung der Geschäfte als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes er Worte hoher Anerkennung aussprach. „Der möchte immer Politik treiben,“ erklärte der Fürst, „und hat im Gegensatz zu mir nur wenig Passion für die Landwirtschaft.“ Der Vizekönig erwiderte: „Bei uns in China muß der Sohn immer das Erbe der Väter übernehmen.“ „Das ist im allgemeinen auch hier bei uns der Fall,“ antwortete der Fürst, „aber man kann doch nicht gegen die Natur.“

    Nun wandte sich das Gespräch ernsten politischen Fragen der jüngsten Vergangenheit zu, im weiteren Verlaufe erklärte Li-Hung-Tschang: „Auf meinem Besuch habe ich mich auch deswegen so gefreut, weil ich hoffte, Sie würden mir einen Rat geben.“ „Und welcher Rat ist das?“ fragte der Fürst. „Wie sollen wir es machen, um China zu reformieren?“ „Das kann ich von hier aus nicht beurteilen,“ lautete die Erwiderung des Fürsten Bismarck. Li-Hung-Tschang: „Wie kann ich erfolgreich sein, wenn alle bei mir zu Hause, Regierung und Land, Schwierigkeiten machen und mich immer wieder hindern!“ „Gegen den Hof angehen,“ erwiderte Fürst Bismarck, „kann man nicht. Die Hauptsache ist: Wenn in der obersten Leitung Raketensatz ist, dann geht vieles; wenn er fehlt, geht nichts. Gegen den Willen der Herrscher kann sich kein Minister auflehnen; er führt nur aus oder erteilt seinen Rat.“ Li-Hung-Tschang: „Aber wenn der Monarch nun allen anderen Einflüssen zugänglich ist und diese immer wieder obsiegen? Die täglichen kleinen Schwierigkeiten bei Hofe sind es, welche die Kraft der Minister lähmen.“ Fürst Bismarck: „Tout comme chez nous (Ganz wie bei uns). Ich habe in meinem Dienste früher so etwas ja vielfach erlebt, auch von weiblicher Seite ….“ Der Vizekönig sagte mit einem Lächeln: „Aber Sie haben doch auch ein durchdringendes Temperament, sollte es da immer friedlich abgegangen sein?“ Fürst: „Nun, gegenüber Damen doch stets.“ „Wie aber soll man es anfangen, den Willen des Fürsten auszuführen?“ fragte der Vizekönig weiter. „Nur auf der Basis einer Armee,“ erklärte der Fürst. „Sie kann klein, ganz klein sein, vielleicht nur fünfzigtausend Mann umfassen; aber sie muß gut sein.“ „Die Leute haben wir,“ entgegnete Li-Hung-Tschang, „aber die Ausbildung fehlt. Seit der Tei-Ping-Rebellion, die die jetzige Dynastie wieder befestigt hat, das heißt seit dreißig Jahren, ist für die Ausbildung nichts mehr geschehen, ich habe gegen den Stillstand gekämpft, aber vergebens. Ich habe jetzt die vorzüglichste Armee der Welt gesehen, die deutsche. Wenn ich auch selbst in Zukunft nicht mehr eigene Mittel verwenden kann, die mir als Vizekönig zur Verfügung standen, so will ich doch dahin wirken, daß geschieht, was Euer Durchlaucht mir rät. Wir müssen reorganisieren und zwar mit preußischen Offizieren und nach preußischem Muster.“ „Es kommt nicht darauf an,“ fuhr dann der Fürst fort, „daß die Armeen in allen Teilen des Landes verteilt sind. Es ist nur nötig, daß man das Heer jeden Augenblick zur Hand hat, und daß Verbindungen geschaffen werden, damit man die Armee schnell und leicht von einem Punkt zum anderen werfen kann.“

    Das Gespräch wandte sich nun wieder deutschen Fragen zu; es wurden Ereignisse der äußeren und inneren Politik des Reiches erörtert, wobei Fürst Bismarck mit Anerkennung von dem Fürsten zu Hohenlohe sprach, mit dem ihn schon seit dreißig Jahren Bande der Freundschaft verbunden hätten. „Wir sind alte Freunde!“ sagte der Fürst. „Caprivi war noch mehr einer derjenigen, die sagen: Es ist befohlen, also wird es gemacht. Hohenlohe hat dem gegenüber eine selbstständige Meinung, die er mit Vorsicht und Geschick vertritt.“ Der Fürst bemerkte im Laufe dieser Erörterungen auch, er habe sich jederzeit für China interessiert und sei bestrebt gewesen, engere Beziehungen mit jenem Land anzuknüpfen. Im Jahre 1884 habe er darüber bereits in Kissingen mit dem Marquis Tsing verhandelt.

    Fürst Bismarck wandte sich darauf an den ihm gegenübersitzenden Botschaftsrat Detring und fragte ihn, wie lange er in China gewesen sei und was er von der Zukunft Deutschlands in China halte. Herr Detring konstatierte, daß die deutschen Beziehungen in China schon jetzt sehr bedeutende Fortschritte gemacht hätten, was zu einem recht erheblichen Teil auch den Bemühungen des kaiserlichen Konsuls, Freiherrn von Seckendorff, zu danken sei. Der Fürst zog darauf auch diesen Herrn mit in das Gespräch. Der Vizekönig zeigte sich sehr teilnahmsvoll in betreff des Gesundheitszustandes des Fürsten und fragte ihn, ob er gut schlafe. Fürst Bismarck erwiderte: Häufig nicht, es fehle ihm doch oft die nötige Nachtruhe.

    Herr Detring meinte, auch der Vizekönig leide sehr unter Gesichtsschmerzen, worauf der Fürst bemerkte: „Es sind bei mir nicht so sehr die Schmerzen, unter denen ich leide, als das Fehlen der Nachtruhe. Je länger ich des Morgens schlafen kann, desto besser ist für mich der ganze Tag. Aber die Schmerzen kommen häufig“ Li-Hung-Tschang: „Weiß denn aber Herr Schweninger gar kein Mittel dagegen?“ „O ja, aber die sind schlimmer als das Leiden selbst …“ sagte der Fürst mit einem scherzhaften Seitenblick auf seinen getreuen Leibarzt.

    Dann sprach der Fürst mit Herrn Detring über dessen Vater. „Ich erinnere mich seiner sehr wohl; er war Primaner, als ich Sekundaner war“, sagte er. Inzwischen war das Frühstück beendet und die Unterhaltung nahm, nachdem sich der Fürst die Pfeife hatte reichen lassen, ungezwungenere Formen an. Der anwesende Maler Herr von Cranach benutzte eifrig die Zeit zum Skizzieren, sowie um mit seinem Apparat photographische Aufnahmen zu machen. Der Fürst hatte sich bei der Begrüßung auch mit ihm unterhalten, wobei er ihn daran erinnerte, daß große Namen auch große Verpflichtungen auferlegten. Am Rocke des Hauptmanns Morgen bemerkte der Fürst ein schwarz-weißes Band. „Das können Sie doch nicht in Frankreich erworben haben, Herr Hauptmann?“ redete er ihn an, „dazu sind Sie doch zu jung.“ „Es gehört zum Roten Adlerorden mit Schwertern,“ erklärte der Hauptmann, „den mir Seine Majestät für meine Kämpfe in Kamerun verliehen hat.“ „Ach so, Kamerun!“ meinte Fürst Bismarck, „es freut mich, auch einmal einen Afrikaner bei mir zu sehen …“

    Die Gesellschaft trat nun auf die Terrasse hinaus. Es war ein interessantes Bild, die beiden Staatsmänner hier miteinander in Unterhaltung zu sehen. Der Vizekönig ist ebenfalls eine stattliche und in ihrer Art ehrwürdige Erscheinung. Es ward ihm sichtlich schwer, sich vom Fürsten Bismarck zu trennen. Er erkundigte sich danach, wie es mit dem Gehen des Fürsten wäre. „Der Radius meiner Spaziergänge,“ erwiderte dieser, „wird jedes Jahr kleiner.“ „Und weshalb fahren denn Euer Durchlaucht nicht?“ forschte der Vizekönig weiter, der sich bekanntlich viele eines Rollstuhls bedient. „Bewegung muß man haben,“ meinte der Fürst. „Sie ist für den Körper nötig; so lange man kann, muß man gehen.“ Li-Hung-Tschang: „Geben Sie sich Mühe, daß Sie Ihre Gesundheit sorgfältig erhalten.“ „Das bitte ich zweimal zu sagen,“ warf der in der Nähe stehende Schweninger ein.

    „Ich habe nichts erreicht und kann wenig mehr leisten gegenüber den Hindernissen, die ich finde,“ fuhr der Vizekönig fort. „Sie unterschätzen sich,“ sagte der Fürst. „Bescheidenheit ist für einen Staatsmann zwar eine sehr gute Eigenschaft. Am meisten müssen die Politiker sich vor zu großem Selbstvertrauen hüten.“ Li-Hung-Tschang: „Euer Durchlaucht haben auf diese Weise die großen Erfolge gehabt und werden mit Befriedigung auf Ihr Leben zurücksehen.“ „Hier und in China,“ sagte der Fürst, „gilt das griechische Wort: Tα παυτα ρετ; Alles fließt, alles stürzt einmal zusammen.“ Die beiden Staatsmänner sahen sich einen Augenblick ernsthaft in die Augen. Sie wechselten noch einige Worte und dann verabschiedete sich Li-Hung-Tschang, indem er sagte: „Ich hoffe, Euer Durchlaucht zum neunzigsten Geburtstage gratulieren zu können.“ Fürst Bismarck und der Vizekönig gingen zusammen bis an den Salonwagen, und hier drückten sie sich noch einmal herzlich die Hand. Als der Zug sich langsam in Bewegung setzte, stand Fürst Bismarck hochaufgerichtet, die Hand an der Mütze, während Li-Hung-Tschang am offenen Fenster stand und den chinesischen Abschiedsgruß in anmutiger Weise ausführte. Die Art, wie er die Hände in der Andeutung eines Segenswunsches wiederholt vor der Brust zusammenführte und dabei den Fürsten Bismarck unverwandt im Auge behielt, so lange er ihn sehen konnte, hatte etwas Rührendes.