Ansprache an den Vorstand des Kieler konservativen Vereins, Friedrichsruh
14. April 1891
Bismarck freue sich, einen konservativen Verein zu begrüßen, denn auch er sei stets konservativen Linien gefolgt. Das bedeute nicht, nichts ändern zu wollen, aber sein Grundsatz laute schon immer: „Quieta non movere, das heißt, was ruhig liegt, nicht stören“.
Ich danke Ihnen, meine Herrn, daß Sie so zahlreich erschienen sind, mich zu begrüßen, und ich danke Ihnen herzlich für Ihre Glückwünsche zu meinem Geburtstage. Es freut mich besonders, daß es ein conservativer Verein ist, der mir eine solche Ehre er zeigt, denn auch ich habe stets auf conservativem Boden gestanden. Man fragt oft: Was heißt conservativ? Wörtlich übersetzt heißt's erhaltend, aber dies Erhaltende besteht nicht etwa darin, daß man immer vertritt, was die jedesmalige Regirung will. Denn diese ist etwas Wandelbares, die Grundlagen des Conservativismus aber sind beständig. Es ist also nicht nöthig oder auch nur nützlich, daß die conservative Partei unter allen Umständen ministeriell sei, conservativ und ministeriell fällt nicht immer zusammen: ich habe als Minister die Conservativen ja oft genug zu Gegnern gehabt und ihnen das nicht zum Vorwurfe angerechnet, so weit ihre Angriffe sich nicht auf das persönliche Gebiet erstreckten, wie zu den Zeiten der Reichsglocke.
Es gibt ein altes gutes politisches Sprichwort: Quieta non movere, das heißt, was ruhig liegt, nicht stören, und das ist echt conservativ: eine Gesetzgebung nicht mitmachen, die beunruhigt, wo das Bedürfniß einer Aenderung nicht vorliegt. Auch in ministeriellen Kreisen gibt es Leute, die einseitig das Bedürfniß haben, die Menschheit mit ihren Elaboraten glücklich zu machen. Eine Regirung, welche unnöthige Neuerungen vertritt, wird anticonservativ, indem sie gesetzliche Zustände, die sich als brauchbar bewährt haben, ändert ohne Anregung durch die Betheiligten.
Man wirft mir vor, ich sei als Ministerpräsident und Kanzler auch nicht conservativ gewesen, denn ich hätte viele alte Formen zerschlagen und viel Neues aufgerichtet. Nun, hierbei ist der Werth des Alten, welches vernichtet, und des Neuen, welches erreicht werden sollte, gegeneinander abzuwägen. Mir stand bei Antritt meines Ministeriums und schon vorher, in Frankfurt, die Ueberzeugung fest, daß wir nur durch Wiedererweckung der deutschen Nationalität und durch die Einheit der deutschen Stämme die Fähigkeit, unter den europäischen Völkern frei zu athmen und zu leben, würden erringen können. Dies zu erreichen, stellte ich vor: erst über alles Andre, sobald ich die Möglichkeit sah, unsre Einheit über die preußischen Grenzen hinaus ausdehnen zu können. Wir hatten und haben ja auch als Preußen ein besondres Nationalgefühl, ursprünglich eine Abzweigung vom großen deutschen. Im Grunde hat es nicht mehr Berechtigung als der specifische Patriotismus deutscher Staaten. Es verstand sich für mich von selbst, daß ich dieses preußische Bewußtsein, in dem ich aufgewachsen war, sehr lebhaft empfand; sobald ich aber überzeugt war, daß das preußische Nationalgefühl der Amboß sei zum Zusammenschmieden der andern, habe ich aufgehört, einseitig preußische Ziele zu verfolgen.
Damals waren also die Aufgaben eines leitenden Ministers andre wie heut, nachdem wir eine der ersten – so will ich höflicherweise anstatt der ersten sagen – Nationen in Europa zu sein von Gott berufen sind. So war es meine Aufgabe, vor Allem unser Nationalgefühl zur Entwicklung zu bringen. Meine Betheiligung an dem Beginn und Verlaufe des Krieges in Deutschland – ich meine im Jahre 1866 – und die Zertrümmerung alter Formen war im Grunde mehr conservativ, als das Verharren bei den Zuständen der Zerrissenheit gewesen wäre. Denn diese hätten schließlich zur Auflösung oder gar Fremdherrschaft geführt; für mich aber handelte es sich darum, den Rest des deutschen Nationalgefühls, der unter der Asche fortglimmte, -anzufachen, also etwas ganz Altes zu bewahren. Dieses alte Besitzthum wurde denn auch bewahrt und verstärkt, in der Hauptsache auf kriegerischem Wege – zum Bedauern ging es auf friedlichem nicht – ist aber nun wohl desto fester gegründet.
Den Vorwurf der Abtrünnigkeit, welchen mir viele der heutigen Conservativen machen, die ihrerseits keine erkennbaren Zwecke verfolgen, halte ich also für ungerecht. Die Einigung Deutschlands war eine conservative That, und ich stehe mit reinem Gewissen vor jedem Examen, das mir darüber auferlegt werden könnte. Ich glaube auch nicht, daß es nöthig ist, einer Fraction anzugehören, um conservativ zu sein; so habe ich mir in den legten Jahren meiner Amtsführung um das Cartell zwischen den Conservativen und Nationalliberalen Mühe gegeben und hoffe, dieses Gebilde wird nicht ganz auseinander gehn, man wird auf conservativer Seite einen Unterschied machen zwischen den Leuten, mit denen zusammen ein staatliches Leben sich nicht führen läßt, und den andern, die zu solcher Gemeinschaft ehrlich bereit sind. Ich bedaure es, wenn das Cartell zerfällt, und ich denke, auch die Conservativen in Kiel geben die Hoffnung nicht auf, mit ihren Gesinnungsgenossen – nicht allein Fractionsgenossen – zusammen die leitende Mehrheit zu bilden.
Meine Wünsche sind nicht gegen die jetzige Regirung gerichtet, ich möchte nur, daß sie den erwähnten lateinischen Spruch Quieta non movere beachtete als einen der obersten staatlichen Grundsätze. Ich sage das nicht aus Oppositionslust, sondern weil ich an dem gedeihlichen Fortgange der Zustände Interesse nehme, zu deren Bildung ich mitgewirkt habe. Man hat von mir verlangt, ich solle mich um Politik nicht mehr kümmern. Niemals ist mir eine größere Dummheit vorgekommen als diese unerhörte Forderung. Sachverständige haben bei öffentlicher Behandlung von Fragen, die in ihr Fach schlagen, das größte Recht und unter Umständen die Pflicht, mitzureden, und ich glaube nach meiner langen Amtsführung nicht ganz ohne Fachkenntniß zu sein. Meine Mitwirkung kann sich jetzt nur mehr nach der negativen Seite hin äußern, aber einer Maßregel gegenüber, die ich für schädlich halte, mein fachmännisches Urtheil auszusprechen, werde ich mir von niemandem verbieten lassen.
Dies ist auch conservativ, glaube ich — conservativ, d. h. nicht: ministeriell, sondern erhaltend.
So begrüße ich Sie als meine politischen Freunde und hoffe, daß Sie Alle, die hier im Zimmer sind, in diesem Sinne sich conservativ nennen. Ich werde nicht lange mehr Ihr Mitarbeiter sein. Möchten diese politischen Grundsätze nicht mit mir aussterben, sondern unsre politische Arbeit in der Bahn weitergeführt werden, die unser hochseliger Herr vorgezeichnet hat.