Gespräch mit dem sächsischen Gesandten Wilhelm von Hohenthal, Berlin

    30. Januar 1890

     

    Wenn sich Wilhelm II. weiter von Personen beraten lasse, denen die Befugnis dazu fehle, werde Bismarck zurücktreten. Er sei 75 Jahre alt und habe „Verdienste, die auch von seinen Gegnern anerkannt würden“. Die Meinungsverschiedenheit mit Kaiser in der Arbeiterfrage verstärkten seinen Wunsch, das Amt des Ministerpräsidenten abzugeben, sich auf das „‚Altenteil‘, die auswärtige Politik und die Führung der preußischen Stimme im Bundesrate zurückzuziehen“.

    Fürst Bismarck ließ mich heute früh bitten, ihn um elf Uhr aufzusuchen. Seine Durchlaucht empfing mich sehr freundlich und sagte mir, die von der Königlichen Staatsregierung in Aussicht genommenen Arbeiterschutzanträge, bezüglich deren ich dem Staatssekretär des Innern eine amtliche Mitteilung gemacht hatte, veranlaßten ihn, mir seinen Standpunkt dieser Angelegenheit gegenüber auseinanderzusetzen. Er halte dies für umso mehr geboten, als die Angelegenheit in den letzten Tagen schon zu einer partiellen Ministerkrisis geführt habe und ihn bestimmen werde, Seine Majestät den Kaiser um seine Entlassung zu bitten, falls sie fortgesetzt werden sollte. Der Kaiser habe sich bei dieser Frage von Persönlichkeiten beraten lassen, denen eine Befugnis hierzu in keiner Weise zustehe. Sein ehemaliger Lehrer, der Geheimrat Hinzpeter in Bielefeld, habe angefangen. Da die von dieser Seite dem Kaiser erteilten Ratschläge sich auch auf die Behandlung der Bergarbeiterfrage erstreckt hätten, und da der Kaiser, dessen Anschauung auch hier von derjenigen des Reichskanzlers abgewichen sei, sich hierbei auf Herrn von Berlepsch berufen habe, so habe er, der Fürst, dem Kaiser seine Demission als Handelsminister angeboten und als seinen Nachfolger Herrn von Berlepsch empfohlen. Der letztere treffe heute hier ein und werde jedenfalls das Portefeuille annehmen. „Geht das so fort“, fügte der Reichskanzler hinzu, „so wird Hinzpeter wohl noch nächstens Reichskanzler werden, denn ich kann mir mit meinen fünfundsiebzig Jahren und mit meiner nicht ganz erfolglosen Vergangenheit nicht gefallen lassen, daß mein Herr von Leuten beraten wird, die hierzu nicht berufen sind. Schließlich fragt der Kaiser irgendeinen beliebigen Husarenoffizier, wie er die soziale Frage lösen soll, und will mir dann dessen Meinung aufzwingen, wenn ich nicht beizeiten gegen eine derartige Behandlung der Staatsgeschäfte Einspruch erhebe.“

    Auf die Arbeiterschutzanträge eingehend, sagte mir der Kanzler, er habe von jeher die Anschauung vertreten, daß derartige Gesetze, die man eigentlich Arbeiterzwangsgesetze nennen müsse und als Arbeiterschutzgesetze nur dann bezeichnen könne, wenn man damit ausdrücke, daß man die Arbeiter vor sich selbst beschützen wolle, nichts taugten, daß sie nicht versöhnend wirken würden, daß sie die Produktion verteuern und erschweren, ja teilweise zugrunde richten, daß sie die vorhandenen Gegensätze verschärfen und last not least einen Beweis dafür liefern würden, daß die Regierungen sich der Sozialdemokratie gegenüber für schwach hielten. Die soziale Frage sei nicht mit Rosenwasser zu lösen, hierzu gehöre Blut und Eisen: er sei zu seinem tiefen Bedauern bei Seiner Majestät dem Kaiser der Anschauung begegnet, daß man den revolutionären Tendenzen gewisse Konzessionen machen könne, ja sogar müsse, bevor es „zu spät“ sei. Hierzu könne er, der Fürst, die Hand nicht bieten, er werde vielmehr vermöge seiner ganzen politischen Vergangenheit dazu gezwungen sein, die Anträge, wenn sie von uns gestellt würden, zu bekämpfen. Nachdem indessen der Kaiser schon jetzt erklärt habe, daß er diesen Anträgen zustimmen wolle, so müsse der Minister dem Willen seines Herrn weichen. Seine Frau und sein Arzt, fuhr der Fürst fort, hätten ihm schon seit Jahren geraten, sich von den Geschäften zurückzuziehen, auch er persönlich sehne sich schon lange danach, „von der Galeere, von der Ruderbank“, an die er geschmiedet sei, loszukommen, und er habe sich daher vorgenommen, sein Amt nach und nach „abzubröckeln“; das Handelsministerium sei er bereits los, auch den preußischen Ministerpräsidenten habe er im Laufe dieses Jahres ablegen wollen, um sich ganz und gar auf sein „Altenteil“, die auswärtige Politik und die Führung der preußischen Stimme im Bundesrate zurückzuziehen. Seine Einflußnahme auf die inneren Fragen habe er auch mit der Zeit aufgeben wollen, und zwar dies umsomehr, als ein Mann von fünfundsiebzig Jahren immerhin noch voll beschäftigt sein werde, wenn er nur das erwähnte Altenteil behalte. Würden indessen die Anträge gestellt, so werde sich ihm die erwünschte Gelegenheit bieten, aus allen seinen Ämtern auszuscheiden. Ihm und seiner Familie werde hiermit nur gedient sein, er gebe aber zu bedenken, ob es im allgemeinen Interesse läge, wenn der einzige Mann innerhalb des preußischen Ministeriums, der dem Kaiser gegenüber eine gewisse Autorität habe, ausscheide. Hierzu komme, daß er in bezug auf die Aufrechterhaltung des europäischen Friedens sich doch gewisse Verdienste erworben habe, Verdienste, die auch von seinen Gegnern anerkannt würden, die er indessen in der Hauptsache seinem persönlichen Einflüsse in Petersburg, London, Wien und Rom verdanke. Diesen persönlichen Einfluß könne er allerdings auf seine Nachfolger nicht vererben.

    Ich habe versucht, den Fürsten über unsere Stellung der Arbeiterschutzgesetzgebung gegenüber aufzuklären, und glaube ihn davon überzeugt zu haben, daß unser Interesse an der Regelung ein rein sachliches ist. Dagegen habe ich selbstverständlich nicht vermocht, ihn von seinen Ansichten abzubringen. So erwiderte er mir zum Beispiel auf meine Bemerkung, daß sämtliche Parteien des Reichstages einer Vermehrung des Arbeiterschutzes geneigt seien: „Das ist nur Stimmenfang; wenn ich jemals mit der öffentlichen Dummheit gerechnet hätte, so wäre ich nicht achtundzwanzig Jahre Minister geblieben.“

    Endlich hat mir der Reichskanzler eine schriftliche Antwort auf meine eingangs erwähnte Note an Herrn von Boetticher in Aussicht gestellt, mit dem Hinzufügen jedoch, daß dieselbe etwas weiteres nicht enthalten werde als die Bitte an die königliche Staatsregierung, die beregten Anträge nicht vor den Wahlen einzubringen.

    Meines unmaßgeblichen Dafürhaltens wird es nicht erforderlich sein, dem Fürsten schon in den allernächsten Tagen etwas anderes zu antworten, als daß man diesem letzteren Wunsche Rechnung tragen werde und das Weitere sich Vorbehalte.

    Ich darf zum Schluß nochmals erwähnen, daß der Reichskanzler während der ganzen Unterredung außerordentlich liebenswürdig war, mir aber den Eindruck von einem Manne machte, der fest entschlossen ist, das zu tun, was er sagt.