Konzept Bismarcks für einen Artikel in der Norddeutsche Allgemeinen Zeitung

    15. Oktober 1888


    Es gebe „demokratische Tendenzen“, die versuchten, die politischen Hauptlinien der verstorbenen Kaiser Wilhelm I. und Kaiser Friedrich III. „nach Möglichkeit zu verschmelzen“. Ihre politischen Einstellungen seien allerdings ausgesprochen verschieden gewesen – eine „natürliche Konsequenz des monarchischen Prinzips“.

    Es liegt in den demokratischen Tendenzen, den Kaiser Wilhelm I. und Kaiser Friedrich III. nach Möglichkeit zu verschmelzen, damit die Politik des ersteren unter der Beleuchtung, die vom Lichte seines Nachfolgers ausgeht, beurtheilt werde. Die Politik beider Herren ist aber bei ihren Lebzeiten niemals eine übereinstimmende gewesen. Es war die natürliche Consequenz des monarchischen Princips, daß jeder Träger der Krone seine persönliche Auffassung in Regierungsakten zum Ausdruck bringt. Diese Thatsache ist – wie in früheren Jahrhunderten so auch zwischen dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm und dem Kaiser Wilhelm zum Ausdruck gekommen; nachdem der Prinzregent als König die conservativere Richtung seines Vorgängers wiederaufgenommen hatte, ist die persönliche Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und seinem Herrn Sohn stärker zum Ausdruck gekommen, am prägnantesten in den Vorgängen, die sich an den Besuch des Kronprinzen in Danzig im Jahre 1863 knüpften.

    Aber nicht nur in der inneren Politik, vielleicht noch constanter war dies der Fall in der auswärtigen, und würde sich bei längerem Leben des Kaisers Friedrich gerade diese Verschiedenheit noch schärfer ausgeprägt haben. Ueber die Hinneigung Kaiser Wilhelms I. zur Russischen Politik besteht kein Zweifel, über die Vorliebe Kaiser Friedrichs für Englische Beziehungen ebensowenig. Beim Eintritt der Identität zwischen der Russischen und Englischen Politik hätten beide Richtungen ihre Rechnung finden können; sie blieben aber unvereinbar solange die Interessen Rußlands und Englands divergiren. Es ist deshalb in der auswärtigen Politik ebensowenig wie in der inneren möglich - namentlich vom monarchischen Standpunkte aus ist es ganz unmöglich - die Politik des Kaisers Wilhelm und die des Kaisers Friedrich zu identificiren. Der Letztere war zur Zeit des französischen Krieges bald 40 Jahr, also in einem Alter, wo man seine eigene und unabhängige Meinung hat. Diese war nicht die seines Herrn Vaters. Es ist also auch nicht zu verwundern, daß ein volles Einverständniß und das auf einem solchen beruhende Maß von gegenseitiger Mittheilung zwischen beiden hohen Herren über auswärtige Politik damals noch weniger stattfand wie über die durch den Krieg in den Hintergrund getretene innere. Diese Thatsache ist eine menschlich und politisch vollkommen natürliche und berechtigte, und nur in den Kreisen befremdend, wo man überhaupt den Werkstätten und Anregungen der Politik im Großen aus Mangel an Nachdenken und an historischem Wissen vollständig fremd ist. Das „Glas Wasser“ im Sinne der Englischen Politik der Königin Anna hat in Preußen bei der Gewissenhaftigkeit seiner Regenten niemals eine Rolle spielen können, aber tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über politische Grundsätze im Innern und im Aeußern wirken bei der männlichen und gewissenhaften Natur der Mitglieder unseres Kgl. Hauses doch hinreichend stark, um die Uebereinstimmung des Thronerben mit dem regierenden Herrn zu hindern oder zu unterbrechen.

    Ein Rückblick auf die Geschichte des Brandenburgischen Kaiserhauses von der Zeit des Kurfürsten Georg Wilhelm und seines großen Sohnes bis auf die heutigen Tage liefert in jedem seitdem vergangenen Menschenalter Beweise von Divergenzen zwischen den Ueberzeugungen der Thronerben und der regierenden Fürsten. In der Anwendung dieser geschichtlichen Auffassung auf die Situation in Versailles in den Jahren 1870/71 wird eine historisch klare Beurtheilung vielleicht nur durch eine spätere Generation möglich sein, weil die gegenwärtige mit der absterbenden noch zu sehr verschmolzen ist, um eine rückhaltlose Oeffentlichkeit zu vertragen. Zur Richtigstellung der zeitgenössischen Ansichten glauben wir nur auf eine Seite der Sache aufmerksam machen zu sollen, die in allen bisherigen historischen Beurtheilungen unserer Ansicht nach nicht zu ihrem Rechte gekommen ist: es ist das die Gefahr, welche den Deutschen Interessen drohte, wenn 1870 die Neutralen, also das „Europa“, welches Herr von Beust vermißte, in dem deutsch-französischen Streit intervenirt wären. Die Möglichkeit dazu lag von Beginn des Krieges an vor, und die Verwirklichung der Einmischung nach den Deutschen Siegen scheiterte nur an dem Mangel an Einverständniß zwischen den großen Mächten. Wir glauben kaum, daß eine der letzteren zur Intervention geneigt gewesen wäre, wenn Deutschland Niederlagen erlitten hätte und zu einem nachtheiligen Frieden genöthigt gewesen wäre. Die Abneigung aber, Deutschland die volle Frucht der Siege seiner Heere pflücken zu sehen, war ziemlich allgemein; den außerdeutschen Mächten war die volle Consequenz der deutschen Siege, die Herstellung eines compakten Deutschen Reiches nämlich, wie es heute besteht, keine erwünschte. Die Möglichkeit der Einmischung der Neutralen, ja die Wahrscheinlichkeit derselben, wurde von der Deutschen Diplomatie sofort ins Auge gefaßt, nachdem die ersten Deutschen Siege die Möglichkeit eines vortheilhaften Friedensschlusses in Aussicht zu nehmen erlaubten. Diese Einmischung konnte von den Schlachten von Wörth und Spichern bis zum Abschluß mit Frankreich im Januar 1871, und selbst nach dem letzteren an jedem Tage eintreten, um Deutschland in seinem Siegeslauf und in dessen Ausnutzung zu hemmen und vor die Nothwendigkeit neuer Europäischer Kämpfe zu stellen, bevor irgend ein Ergebniß seiner blutigen Siege sicher gestellt werden konnte. Die Besorgniß vor neutraler Einmischung, welche damals den Kaiser Wilhelm und seinen politischen Rathgeber nothwendig erfüllen mußte, ist an die politischen Freunde des damaligen Kronprinzen nicht herangetreten. Dieselben haben sich von Möglichkeiten eines Europäischen Veto niemals Rechenschaft abgelegt. Ebensowenig fand unter ihnen eine auf Verständniß der Vorgeschichte begründete Erwägung der Gefahren statt, welche eine Zukunft Deutscher Neubildung bedroht haben würden, die nicht auf vollem Einverständniß aller zum Mitsprechen geschichtlich und militärisch berechtigten deutschen Elemente beruht haben würde. Unter den Rathgebern, welche sich damals unberufen an den Erben der Deutschen Kaiserherrlichkeit drängten, befanden sich viele theoretische, aber kaum ein praktischer Politiker; es wäre sonst unmöglich gewesen, für den Fall des Widerstrebens der süddeutschen Staaten gegen den Eintritt in den norddeutschen Bund Gewaltmaßregeln nicht nur gegen die Fürsten, sondern auch gegen deren Streitkräfte in Frankreich überhaupt zu discutiren. Ein Deutsches Reich, welches in der freiwilligen Mitwirkung aller Stämme und Dynastien, wie sie sich auf dem letzten Reichstage bethätigt hat, die feste Basis der Einheit fand, wäre schon durch den Verdacht gewaltthätiger Pression gegen Bundesgenossen unmöglich geworden und der latente Bürgerkrieg, das Welfenthum übertragen auf 10 Millionen süddeutscher Landsleute, würde das Ergebniß einer unehrlichen Gewaltthat gewesen sein. Aus ihr hätte eine nationale Entwicklung des Kaiserthums niemals hervorgehen können; selbst wenn die Gewaltthat gelungen wäre. Wir lassen dahingestellt, ob Kaiser Friedrich den in dieser Richtung liegenden Gedanken ernstlich Audienz gegeben hat; daß sie von seinen Rathgebern damals befürwortet wurden, war auch vor der Geffckenschen Veröffentlichung der Auszüge aus dem Tagebuche des hohen Herrn bekannt.

    Es ist eine wunderliche Erscheinung, daß gerade die bisherigen Gegner monarchischer Einflüsse ihre nur aus dem Kampf gegen Alles „Bestehende“ hervorgehende Gegnerschaft mit dem Namen eines Monarchen, des Kaisers Friedrich, zu decken bemüht sind. Sie glaubten offenbar, an diesem Herrn die Eigenschaften gefunden zu haben, welche alle Gegner des Bestehenden stets an einem Monarchen zu schätzen wissen. Daß sie sich auch in Bezug auf Kaiser Friedrich hierin im Irrthum befanden, würde ihnen klar geworden sein, wenn diesem Herrn eine längere Regierung von Gott beschieden worden wäre. Nur die Thatsache, daß diese Regierung so kurz war, setzt die Reichsfeinde in den Stand, die Behauptung aufzustellen, daß dieselbe ihnen eine Handhabe geboten haben würde, den Bestand des Reichs zu erschüttern. Die Fortsetzung der Regierung des dahingeschiedenen Herrn würde sie ebenso wie die Ergebnisse der Entwicklung von 1858-62 überzeugt haben, daß ein König von Preußen und ein Deutscher Kaiser mit den Grundsätzen, die sie dem damaligen Kronprinzen unterschieben wollten, nicht zu regieren vermag, und wenn er den Thron besteigt, sich bald überzeugt, daß es so nicht geht.

    Wir resumiren unsere Auffassung dahin, daß es eine unehrliche Argumentation ist, wenn die reichsfeindlichen Organe aus der Thatsache, daß im Jahre 1870/71 - und auch vorher und nachher - die politischen Ueberzeugungen des Kaiser Wilhelm I. und die des damaligen Kronprinzen nicht übereinstimmten, und daß in Folge dieses dissensus ein regelmäßiger und eingehender Meinungsaustausch zwischen beiden Herren und ihren Rathgebern unterblieb, irgend welche politische Consequenzen ziehen wollen. Die Thatsache der Nichtübereinstimmung und des Mangels an eingehendem Meinungsaustausch über innere und auswärtige Fragen zwischen Kaiser Wilhelm I. und seinem Herrn Sohne ist eine geschichtlich zweifellose. Daß dieselbe ihren Ausdruck in den politischen Geschäften der Zeit gefunden habe, ist natürlich und entspricht der Bedeutung, welche die Persönlichkeit eines Mitgliedes eines Königlichen Hauses und insbesondere die des Thronerben im monarchischen Staat hat.