Tischgespräch mit Mitarbeitern, Versailles

    30. Januar 1871


    Bismarck berichtet über seine Verhandlungen mit Frankreichs Außenminister Jules Favre über die Ausführung der am 28. Januar unterzeichneten Waffenstillstandskonvention. Eindringlich habe er ihm vor Augen geführt, dass Konsequenz in der Politik leicht zu „Eigensinn und Selbstwilligkeit“ führe. Man müsse „seinem Vaterlande nach den Umständen dienen, nicht nach seinen Meinungen.“

    Abends kam Abeken zu mir [Moritz Busch] herauf. Er bedauerte, nicht gewußt zu haben, daß ich zu Hause geblieben wäre, man hätte dann unten für mich noch Raum gemacht. Es wäre schade, daß ich nicht dabei gewesen sei, da das Tischgespräch heute ein ganz besonderes Interesse gehabt hätte. Der Chef [Bismarck] habe unter anderem zu den Franzosen gesagt, konsequent sein in der Politik werde häufig zum Fehler, zu Eigensinn und Selbstwilligkeit. Man müsse sich nach den Tatsachen, nach der Lage der Dinge, nach den Möglichkeiten ummodeln, mit den Verhältnissen rechnen, seinem Vaterlande nach den Umständen dienen, nicht nach seinen Meinungen, die oft Vorurteile wären.

    Als er zuerst in die Politik eingetreten sei, als grüner, junger Mensch, habe er sehr andre Ansichten und Ziele gehabt als jetzt. Er habe sich aber geändert, sich’s überlegt und sich dann nicht gescheut, seine Wünsche teilweise oder auch ganz den Bedürfnissen des Tages zu opfern, um zu nützen. Man müsse dem Vaterlande nicht seine Neigungen und Wünsche aufdringen, habe er weiter bemerkt und dann geschlossen: La patrie veut être servie et pas dominée. Dieser Ausspruch habe den Pariser Herren sehr imponiert (natürlich durch die prägnante Form vorzüglich), und Favre habe gesagt: C’est bien juste, Monsieur le Comte, c’est profond! Ein anderer Franzose habe ebenfalls enthusiastisch geäußert: Oui, Messieurs, c’est un mot profond.

    Bucher erzählte mir dann unten noch, indem er dieses Referat bestätigte, daß Favre auf die Rede des Chefs – der sie natürlich zur Belehrung der Franzosen gehalten hat, wie manche frühere Tischrede für andere Gäste – und auf das Lob ihrer Wahrheit und Tiefe die Bêtise habe folgen lassen: Néanmoins c’est un beau spectacle de voir un homme, qui n’a jamais changé ses principes. Auch der Herr Eisenbahndirektor, der ihm übrigens erheblich klüger vorgekommen sei als Favre, habe in betreff des servie et pas dominée hinzugefügt, freilich liefe das auf Unterordnung des genialen Individuums unter den Willen und die Meinung der Majorität hinaus, und die Majoritäten hätten stets wenig Verstand, wenig Sachkenntnis und wenig Charakter gehabt. Der Chef aber habe darauf sehr schön erwidert, wobei er schließlich das Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit vor Gott als einen seiner Leitsterne hervorgehoben habe und dem droit du génie gegenüber, das jener habe hochhalten wollen, das devoir – womit er doch wohl das gemeint hat, was von Kant als kategorischer Imperativ bezeichnet wird – als das Vornehmere und Mächtigere betont habe.

    Abends spät – es war elf Uhr vorüber – kam der Kanzler noch zu uns zum Tee herunter. Es waren diesmal außer Wagener und mir die Barone Holstein und Keudell und eine wahre Grafenbank: Hatzfeldt, Henkel, Maltzahn und Bismarck-Bohlen, versammelt. Der Chef bemerkte: „Ich bin doch neugierig auf Gambetta, wie der’s halten wird. Gambetta – das Beinchen auf Italienisch. – Er scheint sich noch bedenken zu wollen; denn er hat noch nicht geantwortet. Aber ich denke, zuletzt wird auch er klein beigeben. Uebrigens, wenn nicht, auch gut. Eine kleine Mainlinie in Frankreich wäre mir nicht gerade unangenehm.“

    Dann fuhr er fort: „Diese Franzosen sind doch eigentlich recht komische Menschen. Favre kommt zu mir mit einem Gesicht wie ein leidender Heiliger und macht dazu eine Miene, als hätte er mir die wichtigsten Dinge mitzuteilen. Ich sage ihm, als ich das sehe: „Wollen wir nicht hinaufgehen?‘ – ‚Ja,‘ sagt er, ‚gehen wir hinauf.‘ Aber oben setzt er sich dann hin und schreibt Briefe über Briefe, und vergebens warte ich auf eine bedeutende Aeußerung oder Nachricht von ihm. Er hatte mir eben nichts zu sagen. – Was er für uns leistet, geht auf zwei kleine Briefseiten. – Und dieser Polizeipräfekt! In meinem Leben habe ich keinen unpraktischeren Menschen gesehen. Bei allem sollen wir raten und helfen. Er hat mich in einer halben Stunde wohl um allerlei Dinge gebeten, und ich wäre zuletzt fast ungeduldig geworden. Ich sagte ihm endlich: ‚Aber, lieber Herr, wollen Sie mir das nicht lieber schriftlich geben? Ich kann das doch unmöglich alles im Gedächtnis behalten, und nur so kann es ersprießlich erledigt werden. – Mir gehen viertausend Sachen durch den Kopf, und wenn ich ernsthaft an eine denke, verliere ich die andere aus dem Gesicht.“

    Man sprach von den Schwierigkeiten, auf die die Versorgung der Pariser mit Lebensmitteln aller Wahrscheinlichkeit nach stoßen werde. Mehrere Bahnen seien wenigstens für den Augenblick nicht praktikabel, der Bezug von Nahrungsstoffen aus den hinter den von uns besetzten Gegenden liegenden Teilen Frankreichs könne uns selbst in Not und Verlegenheit bringen, und der Hafen von Dieppe, auf den man für die Zufuhr von auswärts rechne, sei nur wenige Schiffe aufzunehmen imstande. Der Chef rechnete aus, wie viele Portionen täglich etwa gebraucht würden, und wie viele man ungefähr herbeischaffen könnte, wenn die Verhältnisse nicht zu anormal wären, und fand, daß die Versorgung nur eine kärgliche sein werde und leicht noch viele Menschen durch Hunger zugrunde gehen könnten. Er setzte hinzu: „Favre selbst sagte mir, daß sie zu lange ausgehalten hätten. Es ist aber, wie er eingestand, bloß, weil sie wußten, daß wir in Lagny Vorräte für sie bereit hielten. Sie waren ganz genau davon unterrichtet. Wir hatten einmal dort herum vierzehnhundert beladne Wagen für sie.“

    Man kam auf die Hindernisse zu sprechen, auf die wir bei Eintreibung der Steuern und Kontributionen stoßen, und der Chef setzte Maltzahn auseinander, was er deshalb angeordnet wissen wollte. Man müsse, so fügte er dann hinzu, die Zerstreuung der Truppen dabei nach Möglichkeit vermeiden, sie für gewöhnlich am Hauptorte des Departements oder Arrondissements zusammenhalten und von diesem Mittelpunkte aus mit fliegenden Kolonnen gegen die Steuerverweigerer, die Freischaren und deren Hehler und Helfershelfer operieren. Jemand gedachte der zehn Millionen Franken, die dem Kreise um Fontenay wegen Zerstörung der Eisenbahnbrücke auferlegt worden find, und Zenckel erklärte als Sachverständiger, das sei ein unerfüllbares Verlangen, man werde den Leuten keine zwei Millionen abdrücken können. „Nicht eine wahrscheinlich,“ sagte der Chef. „Aber so sind wir. Immer werden allerlei Dinge angedroht, und hernach kann man sie nicht ausführen. Das merkt das Volk endlich und gewöhnt sich an die Drohungen.“ Graf Maltzahn erzählte, er sei im Fort Issy gewesen. Es sähe da gräulich aus, Löcher, Kohlen, Splitter und Trümmer, und überall Haufen von Unrat und ein abscheulicher Geruch. „Haben sie denn keine Latrinen gehabt?“ fragte jemand. „Wie es den Anschein hat, nicht,“ erwiderte Maltzahn.

    Dove? – Dove volete, wie in Italien,“ bemerkte ein anderer Tischgenosse. „Ja, sie sind ein unreinliches Volk, die Franzosen,“ sagte der Chef, „ich weiß noch, wie wir in Clermont waren, im Stadtschulhause, da wußte man in der Beziehung nicht, wie man's machen sollte, um den Anstand einigermaßen zu wahren. Unten hatte der Generalstab mit seinen Offizieren und Schreibern die Aussicht auf die Stelle, und da hatte ich mir zu überlegen, ob ich ihnen den Bundeskanzler von vorn oder von hinten zeigen sollte. Doch entschloß ich mich zu letzterm. Und ich mußte mich dort schnell entschließen; denn ich litt gerade daran, daß ich viel gehen mußte und rasch. Dabei präsentierte jedesmal die Wache, was sehr komisch war. Ich mochte abgewinkt haben, so viel ich wollte, das zweite Mal, es half nichts; denn das dritte Mal war's immer ein anderer.“

    Es folgte dann eine hochinteressante, in die Einzelheiten eingehende Auseinandersetzung der verschiedenen Phasen, die der Gedanke des Anschlusses der süddeutschen Staaten an den Nordbund durchlaufen hat. „Schon in Mainz“, so berichtete der Kanzler, „schrieb der König von Bayern einen Brief an unsern allergnädigsten Herrn, worin die Hoffnung angedeutet war, daß er nicht ‚mediatisiert‘ werden würde. Es verstand sich von selbst, daß man ihn darüber beruhigte. Aber der König wollte ihm keine unbedingte Zusage geben. Das war unser erster Konflikt in diesem Kriege. Ich sagte ihm, daß der König Ludwig dann wahrscheinlich seine Truppen zurückziehen würde, und daß er dabei in seinem Rechte wäre. – Ich weiß noch, es war in dem Eckzimmer (des großherzoglichen Schlosses), und es ging hart her. – Später, wie die ersten großen Erfolge bis Sedan da waren, kamen sie auf was andres, es war das Projekt von einem Soldatenkaiser über Deutschland, den die Truppen ausrufen sollten, die Bayern mit. Das war nun nicht mein Fall. – Hernach, wie Bray herkam, da hatten sie wieder in München ihren Plan ausgedacht. Sie waren da jetzt sicher und wollten mehr. Er brachte den Plan von einem alternierenden Kaiser mit. Es könnte ja, wie er mir sagte, ein Uebereinkommen getroffen werden zwischen dem Norddeutschen Bunde und Bayern oder auch zwischen Deutschland und Bayern. Wir könnten ganz gut inzwischen mit Baden und Württemberg abschließen und uns hernach mit Bayern verständigen. – Das paßte mir ganz gut. Wie ich’s aber Delbrück sagte, wollte der vom Stuhle fallen. Ich sagte ihm aber: ‚Mein Gott, so lassen Sie’s doch gut sein! Das ist’s ja gerade, was wir brauchen.‘ Und so war’s auch. Wie ich das Suckow und Mittnacht sagte, waren sie außer sich vor Wut und schlossen gleich ab. – Hernach aber war der König (von Württemberg) wieder auf andere Wege gebracht worden. Da wollte er wieder mit Bayern gehen. Die aber, die Minister, blieben fest und sagten mir, eher träten sie von ihrem Posten zurück. So wurde der Vertrag mit Württemberg erst in Berlin abgeschlossen. – Zuletzt, nach vielen Schwierigkeiten von beiden Seiten“, so berichtete er weiter, „machte sich’s auch mit Bayern, und es hieß: Nun fehlt es bloß noch an einem – es war freilich das Wichtigste. Ich sah einen Weg und schrieb einen Brief – und dann hatte ein bayrischer Hofbeamter das Verdienst. Er hat fast das Unmögliche geleistet. In sechs Tagen machte er die Reise hin und zurück, achtzehn Meilen ohne Eisenbahn und bis ins Gebirge hinauf nach dem Schlosse, wo der König sich aufhielt – und dabei war seine Frau noch krank. Ja, es war viel von ihm. Er kommt an im Schlosse, findet den König unwohl – Zahngeschwür – oder an den Folgen einer Operation mit Chloroform leidend. Er ist nicht zu sprechen. – Ja, er hätte einen Brief von mir abzugeben, sehr dringend. Hilft auch nichts, der König will ungestört sein, sich diesen Tag mit nichts befassen. Zuletzt aber war er doch begierig zu wissen, was ich ihm mitzuteilen hatte, und der Brief fand eine gute Statt. Nun aber fehlte es wieder an Papier und Tinte und an allem andern zum Schreiben. Sie schicken einen Reitknecht fort, und der kommt endlich mit Papier zurück, mit grobem, und der König antwortet, wie er ist, im Bette, und das Deutsche Reich war gemacht.“

    Im weiteren Verlauf der Unterhaltung wurde die Verhaftung Jacobys erwähnt, und der Chef bemerkt: „Falckenstein hat sich sonst ganz vernünftig benommen, aber er ist mit dieser Maßregel schuld daran, daß wir den Landtag nicht vier Wochen früher einberufen konnten, weil er nicht darauf einging, Jacoby freizulassen, als ich ihn darum bat. Wenn er ihn als Rhinozeroskotelett gegessen hätte, meinethalben; aber ihn einsperren – da hatte er an ihm nichts als einen alten dürren Juden. – Auch der König wollte erst nichts von meinen Vorstellungen wissen, und so mußten wir warten; denn der Landtag wäre in seinem Rechte gewesen, wenn er seine Freilassung verlangt hätte.“ Geistesverwandtschaft gab Anlaß, daß die Rede von Jacoby sich Waldeck zuwandte, und der Chef charakterisierte diesen folgendermaßen: „Aehnliche Anlage wie Favre, immer konsequent, prinzipientreu, fertig mit seiner Ansicht und seinem Entschluß von vornherein, dazu stattliche Gestalt, weißer, ehrwürdiger Bart, Phrase im Brustton der Ueberzeugung auch in Kleinigkeiten – das imponierte. Er hielt mit einer Stimme, die vor tiefster Ueberzeugungstreue bebte, eine Rede darüber, daß der Löffel hier im Glase stecke, und proklamierte, daß jeder ein Schuft wäre, der das nicht zugeben wollte, und alle glaubten’s ihm und priesen in allen Tonarten seiner energische Gesinnung.“