Artikel in der Kreuzzeitung
31. August 1849
Am 25. August 1849 kämpft Josef Maria von Radowitz im Preußischen Abgeordnetenhaus für die Gründung eines konstitutionellen Bundesstaates mit Preußen als Vormacht. Trotz aller Kritik am Plan des Beraters von König Friedrich Wilhelm IV. beschreibt Bismarck einfühlsam, wie die Rede Beifallsstürme „in pyramidaler Höhe“ ausgelöst habe.
Wohl selten hat eine Kammersitzung bei uns so viel Zuhörer auf den Tribünen gehabt, als die am vorigen Sonnabend; selbst von auswärts her haben viele die Reise nicht gescheut, um Herrn v. Radowitz sprechen zu hören, und der Andrang nach Einlaßkarten Seitens der Deputirten und Nichtdeputirten war bis nach Anfang der Sitzung so stark, daß selbst die höfliche Sanftmuth des Kanzleiraths Bleich ihrem Ende nahe gewesen sein soll. Die Hitze im Local war groß, die Tribünen bis an die Wände gefüllt, selbst die sonst leere Hofloge, und in der diplomatischen standen die würdigsten Gesandten fest hinten an die Mauer gedrängt im Schweiße ihres Angesichts.
Einige langweilige Kleinigkeiten reizten die Ungeduld, bis Herr v. Radowitz, in schwarzem Frack und schwarzer Halsbinde, seinen Platz hinter dem Grafen Brandenburg verließ und unter athemlosen Schweigen der Versammlung langsam auf die Tribüne schritt. Wir hatten selten Gelegenheit gehabt, diesen außerordentlichen Mann ruhig betrachten zu können. Sein Kopf ist entschieden schön; die Stirn verläuft sich bis zum Scheitel hinauf zwischen aufrechten grauen Locken, das Profil bietet eine griechische Regelmäßigkeit, welche nur durch eine stark hervorragende, aber von dem Schnurrbart verdeckte Unterlippe gestört wird. Die gleichmäßige Blässe des Gesichts hebt das lebendige Feuer der dunkelbraunen Augen noch hervor. Seine Figur ist die eines Mannes, der sich den Sechzigern nähert, und, als Maler gesagt, keine entsprechende Trägerin eines Kopfes wie dieser. Der Ton seiner Stimme ist tief und ernst, an und für sich ergreifend, und jeder Biegung nach dem Bedürfniß der Rede sich leicht anschmiegend. Der Vortrag war langsam und deutlich, unterstützt durch Gesticulationen des rechten Armes, die sich innerhalb der Grenzen des Würdigen hielten.
Der Redner hatte ein kleines Manuscript vor sich, welches seinem, wie wir hören, erstaunlichen Gedächtniß zum Anhalt diente, ohne daß der harmonische Fluß der Rede jemals unterbrochen wäre; jedes Wort kam klar und präcis, ohne Stocken und ohne Verwechseln zu Tage, und keines war zu viel oder zu wenig für den beabsichtigten Eindruck. Die anscheinende Inpassibilität des Redners contrastirte seltsam mit der Aufgeregtheit der Zuhörer. Man glaubte einen Redner vor sich zu sehen, der klar und scharf auf dem Felde des kalten Verstandes, mit Gründen siegender Logik, entgegenstehende Ansichten entkräftet; die Versammlung merkte wohl kaum, daß nicht ihr Urtheil berichtigt, sondern ihr Gefühl zur Begeisterung gesteigert, daß sie nicht überzeugt, sondern hingerissen wurde von dem außerordentlichen Manne, der unter ihrem Beifall, nicht wie Herr v. Vincke höher geröthet im Gefühle geschmeichelter Eitelkeit, mit triumphirendem Lächeln, sondern kalt und bleich, wie ein Mann, der dergleichen kennt und nicht sucht, auf den Sturm, den er erregt hat, herabsah. Der beste Beweis hiervon war, daß auch der offenbar schwache Punkt der Rede, nämlich die Art, wie sie Einwürfe gegen den Inhalt der Verfassung abfertigte, mit dem größten Beifall aufgenommen wurde. Der Redner ging über den „Kern des Pudels“ mit einem Scherz hinweg, der aus so ernstem Munde seinen Eindruck nicht verfehlte, der aber auf alle Verfassungen der Welt, auch auf die abgelehnte Frankfurter, Anwendung findet, die bekanntlich den Demokraten zu gut, den Conservativen zu schlecht war.
Wie dem auch sei, der orat[or]ische Sieg war vollständig; die Redner von Profession sahen mit unverhehltem Brodneid nach der Tribüne; die Herren aus Frankfurt blickten triumphirend um sich, als wollten sie sagen: Seht Ihr, so sprachen wir dort alle; im gemeinsamen Stolz der Paulskirche vergaßen sie, daß es ihr Gegner von dort war, dessen oft heiß bekämpften Tendenzen sie huldigten. Die Rührung war eine allgemeine, ohne daß wir in der gedruckten Rede gerade die Stelle bezeichnen könnten, über die jeder Einzelne weinte. Ernst ergriffen war jeder von dem Eindruck, und namentlich unter den weich geschaffenen Seelen des Centrums waren wenig Augen trocken. Einem hohen Beamten der Finanz rollte ein Budget von Thränen über die geröthete Wange; bei einem der centralsten Pfeiler preußischer Gerechtigkeit brachte das Bestreben, die sichtbaren Zeichen der Rührung zu unterdrücken, so ungewöhnliche Con-stellationen der Gesichtszüge hervor, daß ein Spaßvogel, dem selbst dieser Moment nicht heilig war, meinte, jener müsse eben das Unglück gehabt haben, Oberschlesier statt Oberungar zu trinken; und einer der trockensten Staatsmänner der Revolution schien der Fertigkeit d’Esters nicht zu bedürfen, um eine Thräne zur Welt zu bringen.
Am Schlusse der Rede stieg der Beifall zu pyramidaler Höhe; es war eine Begeisterung, wie sie nur die Ungarn empfunden haben können, als Maria Theresia unter sie trat. Das moriamur pro tribus nostris regibus stand auf jedem Gesicht geschrieben. Hätte der Redner unter dem Klatschen von mehr als 2000 Händen sich noch Gehör verschaffen können, er hätte von der Kammer alles, auch Millionen, fordern können, es wäre sofort bewilligt worden; die Rechte klatschte und die Linke, das Centrum und die erste Kammer; die gesammten Tribünen klatschten, und nur auf der diplomatischen bemerkten wir Hände, von denen wir wissen, daß sie beim Anblick der Cerito sich wohl erfahren in der Kunst des Klatschens bewiesen haben, sich hier aber jeder Ausübung derselben enthielten. Chacun à son goût.