Artikel in der Kreuzzeitung

    11. Juli 1848


    Nach Ausbruch der Revolution wettert Bismarck in einem Stimmungsbericht aus Pommern gegen die Ausweitung des aktiven und passiven Wahlrechts. Die „Wohlfahrt Preußens und Deutschlands“ dürfe nicht in die Hand von Bürgern gelegt werden, „welchen selbst die ersten Anfänge, nicht nur der politischen, sondern jeglicher Bildung fehlen.“

    Aus Pommern, den 8. Juli. Um den Werth unserer Errungenschaften unbefangen beurtheilen zu können, müssen wir prüfen, welche praktischen Resultate sie bisher geben. In erster Reihe steht ohne Zweifel die allgemeine Wahlfähigkeit, und wäre es daher interessant, aus allen verschiedenen Theilen des Reichs nähere Nachrichten über den Mechanismus unsrer Wahlen zu erhalten.

    Bei der großen Masse der ländlichen Bevölkerung von Hinterpommern erregte unsere Umwälzung, insoweit sie politischer Natur war, keine oder eine feindselige Theilnahme; um ihr Werk vollständig auszunutzen, waren die Radicalen daher genöthigt, der Sache hier wie anderwärts einen socialen Beigeschmack zu geben, indem man die communistische Begehrlichkeit der zahlreichsten und ärmsten Classe durch Lügen aufstachelte. Da zeigte sich denn bald, daß das vierte Gebot unter den pommerschen Tagelöhnern weniger kräftig wurzelte, als die Gelüste nach dem, was ihres Nächsten ist. Im Namen des Königs wurden gedruckte Proclamationen verbreitet, jeder Arbeiter solle 6 Morgen Land, 2 Kühe und 60 Thlr. auf Kosten der Rittergüter erhalten; diese Wohlthat werde den Armen nur durch die Habgier und Herrschaft der Edelleute und Geistlichen vorenthalten; der König wolle die Tagelöhner durch ihre Abgeordneten jetzt selbst sprechen, um von ihnen zu hören, ob sein Geschenk ihnen genüge. Diese Leute lesen sonst nichts Gedrucktes, und was ihnen gedruckt zugeschickt wird, hat für ihre Einfalt stets amtlichen Charakter; sie glaubten diesen Unsinn, und glauben ihn größtentheils noch.

    Im Regenwalder Kreise erließ ein Patrimonialrichter, Carl Misch, der früher wegen Erpressungen, die er in seinem Amte versucht, bereits bestraft worden war, einen Aufruf, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, wo der Arme sich der Peitsche seiner Blutsauger entziehen müsse u.s.w., mit der Chiffre C. M. unterzeichnet. Noch jetzt glaubt die Mehrzahl der dortigen Bevölkerung, dieses heiße „Camphausen, Minister“ und sei ein amtlicher Erlaß, obgleich diesem Wahn mehrfach amtlich im Kreisblatt widersprochen worden. Das Resultat dieser Umtriebe war in dem Kreise die Wahl des ehemaligen Müllergesellen, jetzigen Tagelöhners, oder wie er sich titulirt, Oekonom, Quandt.

    Im Cösliner Kreise trat in einer Pause nach einer zwiespältigen Wahl der „Pächter“ eines Ländergrundstücks, T e s k e , auf; derselbe war sonst bei einer umherziehenden Schauspielertruppe, ich weiß nicht, als was, beschäftigt, auch eine Zeit lang Bewohner diverser Detentionsanstalten; er warf den Wählern ihre Thorheit vor, daß sie mit 3 oder 6 Morgen Land zufrieden sein wollten; jeder müsse einen Bauernhof haben, und dazu sei ja das ehemalige Bauerland noch da, welches der König bei Aufhebung der Erbunterthänigkeit den Rittergütern „geschenkt“ habe; was dann fehle, müßten die Güter für die bisherige Nutzung zulegen. Das war der Mann! der Branntewein floß, und Teske wurde gewählt.

    Den Rummelsburger Kreis vertritt, in ähnlicher Richtung, der ehemalige Bäckergesell Repel, der sich bisher in den Wäldern als Holzhauer und Brettschneider ernährte, nachdem er seinen Bäckermeister aus nicht ganz gewöhnlichen Gründen verlassen und das Gewerbe eben deshalb aufgegeben hat; beim Verfassungmachen für 3 Thlr. täglich steht er sich nun allerdings besser, als beim Holzhauen; er wird als Capitalist, also conservativ, heimkehren. Daß die Stimmung, aus welcher diese und fast alle hinterpommerschen Wahlen hervorgingen, noch keineswegs der Vernunft und Rechtlichkeit gewichen ist, beweist die neuliche, fast einstimmige Wiedererwählung des, derselben Kategorie wie die Genannten angehörigen Vertreters des Neustettiner Kreises, dessen Wahl, weil er kein Preuße war, das erste Mal ungültig blieb, der aber inzwischen naturalisirt worden ist.

    Es ist in der That eine wunderbare Verfassung, welche die Gesetzgeber eines Staates von 16 Millionen Einwohnern, in dem Augenblick, wo derselbe durch die deutsche Entwickelung eine höhere Bedeutung einzunehmen im Begriff ist, in denjenigen Schichten der Gesellschaft sucht, welchen selbst die ersten Anfänge, nicht nur der politischen, sondern jeglicher Bildung fehlen. Glaubt etwa irgend Jemand, oder affectirt auch nur zu glauben, daß diese und so viele andere unserer angeblichen Vertreter, ein selbständiges Urtheil darüber haben, welche Gesetze oder gar welche Verfassung die Wohlfahrt Preußens und Deutschlands zu verbürgen geeignet sein werden? Daß sie auch nur im Stande sind, der Discussion in der Versammlung zu folgen und ohne fremde Einflüsterungen zu wissen, um was es sich bei jeder Frage handelt? Nein, das glaubt Niemand; und doch geht die Sache ruhig ihren Gang; das Schiff, welches uns durch die Klippen der sturmbewegten Zeit führen soll, wird gebaut und getakelt von Leuten, welche bisher Schiff und Schiffahrt nicht einmal von Hörensagen kannten, die kein weiteres Augenmerk haben, als daß ihr eigener Platz darin bequem sei, und die keinen Nagel einschlagen können, ohne daß ihnen die Hand dazu geführt würde. Und von wem wird diese Hand geführt! von einer Anzahl ehrgeiziger Advocaten, Assessoren, die nach der Idee ôte-toi que je m’y mette, durch Umsturz schnellere Carrière zu machen hoffen, von ehemaligen Demagogen, die ihre Bestrafung noch nicht verschmerzen können, von hohlen Phrasendrehern, die ihrer eigenen Eitelkeit und ihren Committenten zu Liebe das Publicum mit dem verblichenen Bombast 60 Jahr alter Tiraden langweilen, von Fanatikern, die seit der Erklärung der Menschenrechte nichts gelernt und nichts vergessen haben, oder von zänkischen Schwätzern wie Herr Gladbach, bei deren kleinstädtischer Bissigkeit der Leser der Verhandlungen sich in die „Eingesandt“ und „Bescheidenen Anfragen“ eines Winkelblattes versetzt glaubt, in welchem ein malcontenter Schneidergeselle oder ein abgesetzter Schulmeister den Magistrat herunterreißt.

    Parlamentarische Unfähigkeit, wortklauberische Opposition à tout prix, kindische Interpellationen (gelegentliche Einführung des „Czaren von Petersburg“ als Kinderschreck, wie Samiel in der Wolfsschlucht), wüstes Geschrei und würdeloses Zanken über Allotria sind die demüthigenden Erscheinungen, die wir 6 Wochen lang für den Preis von 60 000 Thlr. beobachtet und welche sich dem erwartungsvollen Deutschland und dem Hohn Europas in der Versammlung der Vertreter eines großen Volkes darbietet, welches die Intelligenz als sein Monopol betrachtet: die Versammlung will Gesetzgeber, Richter, Polizei, politischer Club, kurz Alles in Allem sein, und vergißt über ihrer willkürlichen Vielregiererei ganz, wozu sie eigentlich da ist, nämlich die Verfassung mit dem Könige zu vereinbaren und interimistisch die lediglich berathenden oder bewilligenden, aber nicht gesetzgebenden Befugnisse des ehemaligen Vereinigten Landtags auszuüben.