Kulinarische Exzesse

    Der Chef der Reichskanzlei Christoph von Tiedemann erinnert sich an Bismarcks kulinarische Exzesse bei seinem ersten Besuch in Friedrichsruh im Januar 1875.

    Als ich zum ersten Male bei ihm speiste, klagte er über Appetitlosigkeit, und ich gewahrte dann mit wachsendem Staunen, daß er von jedem Gericht eine Dreimännerportion vertilgte. Mit Vorliebe genoß er schwere und unverdauliche Speisen und die Fürstin begünstigte diese Neigung. Wenn er in Varzin oder Friedrichsruh an einer Magenverstimmung litt, hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als an Borchardt in Berlin um Zusendung einer Gänseleber- oder Krammetsvogelpastete größter Sorte zu telegraphieren. In diese legte, wenn sie am nächsten Tage bei Tische präsentiert wurde, der Fürst schon auf den ersten Anhieb eine große Bresche; während sie weiter herumgereicht wurde‚ verfolgte er sie mit eifersüchtigen Blicken, was zur Folge hatte, daß jeder der Anwesenden sich des Spruches erinnerte: „Bescheidenheit ist eine Zier“, ohne den Nachsatz zur Anwendung zu bringen. Kam die Pastete dann, in ihrem Volumen nur um ein geringes vermindert, an ihn zurück, so verzehrte er sie bis auf den letzten Rest. Kein Wunder, daß bei solchen kulinarischen Exzessen gastrische Störungen an der Tagesordnung waren.

    Christoph von Tiedemann, Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei unter dem Fürsten Bismarck. Erinnerungen, 2., vermehrte Aufl., Leipzig 1910, S. 484

    Koch in Friedrichsruh CWAllersMenüanfertigung für die Fürstin, Friedrichsruh 1892. Zeichnung von Christian Wilhelm Allers, erschienen in: C. W. Allers, Fürst von Bismarck in Friedrichsruh, 4. Aufl., Stuttgart, Berlin, Leipzig 1892