Ein Mythos entsteht

    1890-1918


    Hinter dem Namen Otto von Bismarck verbergen sich aus historisch-kritischer Sicht zwei Figuren: die tatsächliche Person des Politikers mit seinen Leistungen und Fehlleistungen sowie der mythisch verklärte Reichsgründer, der bereits zu seinen Lebzeiten verehrt wurde. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wurde er durch eine große Zahl von Denkmälern und Straßenbenennungen in den begehbaren Erinnerungshaushalt Deutschlands eingeschrieben. Über beide – die tatsächliche Person und die Mythosgestalt – lässt sich vor dem Hintergrund ihrer Zeit und auf wissenschaftlicher Grundlage diskutieren. So können die Bilder entschlüsselt werden, die sich Bismarcks Zeitgenossen und ihre Nachfahren von ihm machten.

     

    Bismarck wird zur Kultfigur

    Zur Vorgeschichte des Bismarck-Mythos gehört der bereits in den Regierungsjahren des Reichskanzlers einsetzende Kult um seine Person. Dieses Phänomen war keine deutsche Erfindung: Im Zeitalter der Nationalstaatsgründungen entwickelten in verschiedenen Ländern politisch führende Kreise ähnliche Erzählungen. In der Absicht, die jeweilige staatliche Einigung und Größe hervorzuheben, wurde dabei eine Person in den Mittelpunkt gestellt. So entstanden in den USA Denkmäler für George Washington und Abraham Lincoln, in Italien wurde Giuseppe Garibaldi und in Frankreich Napoleon I. im öffentlichen Raum allgegenwärtig. In Deutschland diente Bismarck als Projektionsfläche der Erzählung.

    Die ihm gewidmeten patriotischen Zuschreibungen unterlagen in Publizistik, Stadtmöblierung und Festkultur Konjunkturen und Stilwandlungen. Weit vorn lagen in zeitlicher Sicht die „Getreuen von Jever“, die dem Reichskanzler zu seinem Geburtstag seit 1871 regelmäßig 101 Kiebitz-Eier schickten und dieses Geschenk stets publizistisch begleiteten. Noch früher, schon 1869, wurde im Eulengebirge der erste von am Ende 240 Bismarcktürmen eingeweiht. Zu einer der ersten kommunalen Bismarck-Benennungen fühlten sich 1871 die preußen-affinen bürgerlichen Eliten Dresdens bemüßigt, die im Stadtzentrum einen Bismarck-Platz einweihten. Bismarck selbst gewöhnte sich bald an die öffentlich sichtbaren Indienstnahmen seiner Person, obwohl er über die erste ihn darstellende Statue, die 1877 in Kissingen aufgestellt wurde, noch irritiert gewesen war.

    Bei den Festveranstaltungen, in Flugschriften und Huldigungen zum 70. Geburtstag Bismarcks 1885 deutete sich bereits an, welches Potential seine Person insbesondere für nationalprotestantische Kreise enthielt. Es kam aber in seiner Regierungszeit noch nicht zu den Übertreibungen späterer Jahre, als er zu einer geradezu heilsgeschichtlich aufgeladenen Vollstreckerfigur der deutschen Geschichte gehypt wurde.

     Abschiedsadresse Berliner Brgerschaft an BismarckDie Abschiedsadresse der Berliner Bürgerschaft entstand anlässlich der Entlassung Otto von Bismarcks aus seinen Ämtern und ist ein Beleg für den Kult, der sich um den „Reichsgründer“ ausbreitete. Zeichnung von W. Friedrich, 1890 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Mitarbeit an der eigenen Legende

    Als Kaiser Wilhelm II. 1890 Bismarck entließ, sehnten sich breite Bevölkerungskreise zustimmend nach einem politischen Neubeginn. Je weniger sich diese Hoffnungen in der Folge erfüllten, desto verklärender schaute man auf die Jahrzehnte unter dem ersten Reichskanzler zurück. Die Erinnerung an seine durchaus strittige Politik begann langsam zu verschwimmen, woran er selbst seinen Anteil hatte: Er strickte in seinen letzten Lebensjahren fleißig an der eigenen Legende mit. Aus dem Kult um ihn wurde in einem fließenden Übergang der Bismarck-Mythos, der teils gegensätzliche politische Aussagen integrierte und den Reichsgründer in verschiedene Richtungen anschlussfähig machte.

    Den Höhepunkt markierte sein 80. Geburtstag im Jahr 1895, als Zehntausende Einzel- und Gruppenbesucher mit unterschiedlichsten Hintergründen zum „Alten in den Sachsenwald“ pilgerten und ihn bejubelten und beschenkten. Das 1891 in seinem Geburtsort Schönhausen eröffnete Bismarck-Museum verdankte zahlreiche Exponate diesem runden Geburtstag.

    Im Deutschen Reich, den deutschsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie und den europäischen und überseeischen Siedlungsgebieten deutscher Auswanderer folgte auf die Glückwunschadressen eine Flut von Denkmalsstiftungen und Straßenbenennungen. Pflanzenarten, Spirituosen und der berühmte Hering bekamen seinen Namen. Universitäten verliehen ihm Ehrendoktorwürden, Städte machten ihn in Serie zu ihrem Ehrenbürger, Vereine zum Ehrenmitglied.

     Friedrichsruh 141895 Geburtstag BismarckBismarck wurde an seinen 80. Geburtstag am 1. April 1895 von tausenden Bewunderern bejubelt, die sich im Park des Friedrichsruher Herrenhauses versammelt hatten. Der Jubilar, der mit seiner Geburtstagsgesellschaft auf der Terrasse steht, ist an der Pickelhaube zu erkennen (© Otto-von-Bismarck-Stiftung).

    Das Bürgertum sucht sich einen Helden

    Diese Ehrungen waren bis auf wenige Ausnahmen – wie das 1901 eingeweihte Bismarck-Nationaldenkmal vor dem Reichstag – nicht staatlich initiiert. Sie entsprangen lokalen Initiativen, bei denen nicht selten eine Kommune die Nachbargemeinde patriotisch zu überbieten versuchte. Mehr als 500 Denkmäler zeugen von diesem Wunsch nach national zuverlässiger Selbstpositionierung. Erst um 1905 ebbten die Errichtungen von Bismarckdenkmälern und -türmen langsam ab. Die Idee eines gigantischen Bismarck-Denkmals auf der Elisenhöhe bei Bingen am Rhein wurde nach dem Ersten Weltkrieg ebenso wenig umgesetzt wie die Vielzahl kleinerer Ehrungen, die für den 100. Geburtstag im Jahr 1915 geplant waren. Am Ende der Friedensphase des Kaiserreichs endete vorläufig auch der Ausbau des öffentlichen Ehrregimes für seinen Begründer.

     Bismarck Teller 100 GeburtstagDer Teller wurde zum 100. Geburtstag des ersten Reichskanzlers verkauft. Das Zitat, das aus einer Grundsatzrede zur Außenpolitik am 6. Februar 1888 im Reichstag stammt, lautet vollständig: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt.“ (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Nicht für alle ein Vorbild

    Bei einem genauen Blick zeigen sich auffällige geografische Unterschiede. Denn die unkritische Heldenerzählung über den zupackenden Monarchisten aus dem protestantischen Preußen stieß weder vor seiner Entlassung noch nach seinem Tod oder darüber hinaus überall in Deutschland auf Zustimmung. Als Schlüsselereignis darf die mit den Stimmen des katholischen Zentrums, der Sozialdemokraten, der Linksliberalen und der polnischen Abgeordneten zustande gekommene Weigerung des Reichstags gelten, dem Greis im Jahr 1895 einen Geburtstagsgruß auszusprechen.

    Blickt man auf die Landkarte des Deutschen Reiches, finden sich Ehrbezeugungen zwar überall zwischen Ostsee und Bodensee. Im katholischen Altbayern und im Rheinland sowie im 1866 annektierten Königreich Hannover und in Kurhessen gibt es allerdings auffällige Leerstellen bei Bismarck-Standbildern, -Büsten, -Brunnen, -Türmen, -Plätzen, -Straßen, -Eichen, -Apotheken und -Schulen. Teil der Populärkultur wurde der Mythos um seine Person in der Epoche seiner Mitlebenden also vor allem in den protestantischen Teilen Deutschlands.

     Assenhausen PostkarteDie Baugenehmigung für diesen Bismarckturm bei Assenhausen am Starnberger See wurde am 25. August 1896 erteilt, also ungewöhnlicherweise noch zu Lebzeiten Bismarcks. Es wurde, ausgerechnet in Bayern, der zweitteuerste Bismarckturm überhaupt. Postkarte (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)


    Video: Die Geschichte eines Mythos

    Schon zu seinen Lebzeiten begann der reale Politiker Otto von Bismarck mit seinen Leistungen und Fehlleistungen in der öffentlichen Wahrnehmung hinter der Heldenfigur des Reichsgründers zu verschwinden. Das Video erzählt von den Anfängen des Bismarck-Kults.


    Die Geschichte eines Mythos